Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund machen in den Schweizer Schulen einen geringen Anteil aus. In den Lehrerzimmern sind sie eher selten anzutreffen. So stehen diese Kollegien in ihrer kulturellen Zusammensetzung zumeist in einem starken Kontrast zu einer ausgesprochen multikulturell zusammengesetzten Schülerschaft. Schulen werden deshalb zuweilen auch als Institutionen mit monokulturellem und monolingualem Habitus bezeichnet. Mit dem Hinweis auf das eklatante Missverhältnis zwischen multikultureller Schülerschaft und monokultureller Lehrerschaft wird zunehmend die Forderung nach mehr Lehrpersonen mit Migrationshintergrund laut. Um diese Forderung hat sich in Deutschland seit längerem eine lebhafte Debatte entwickelt. Die wissenschaftliche und bildungspolitische Debatte in der Schweiz wurde erst mit einiger Verzögerung entfacht.
Hoffnungen und kritische Einwände
In Lehrpersonen mit multikulturellen Biografien werden grosse Hoffnungen gesetzt: Aufgrund ihrer nicht oder nicht ausschliesslich schweizerischen Herkunft sollen sie über ein besonderes Potenzial für den Umgang mit kultureller Vielfalt verfügen. Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, deren Eltern und ganze Schulen sollen von ihnen lernen können.
Ein Überblick über den Forschungsstand zeigt allerdings schnell: Dieses besondere Potenzial ist kaum mit solider empirischer Evidenz untermauert. Aus der blossen Tatsache, dass Lehrpersonen oder deren Vorfahren zugewandert sind, lässt sich denn auch schwerlich per se eine gesteigerte Professionalität im Umgang mit kultureller Vielfalt begründen. So bleibt die Frage offen, inwiefern eine familiäre Migrationsgeschichte einen Erfahrungshintergrund darstellt, der für das Unterrichten bedeutsam ist.
Vor diesem Hintergrund führen gängige Fragen, z.B. inwieweit nun Lehrpersonen mit Migrationshintergrund tatsächlich Brückenbauer oder Kulturvermittlerinnen sind und zu einer höheren Wertschätzung und Akzeptanz des Anderen beitragen, ins Leere. Das lässt sich an zwei Aspekten zeigen: erstens an problematischen Etikettierungen und zweitens an den Gründen, warum ein allfälliges Potenzial von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund nicht immer genutzt wird.
Problematische Etikettierungen
Die Frage nach einem besonderen Potenzial unterstellt eine problematische Grenzlinie zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen dem Wir und den Anderen, zwischen Eigenem und Fremdem und trägt dazu bei, diese Abgrenzungen immer wieder neu zu verfestigen. Und so lösen denn diese Fragen unter den betroffenen Lehrpersonen durchaus auch Unbehagen aus, wenn damit das Stigma der Anderen, der Fremden mitschwingt. Sie sollen die Sonderbotschafter für interkulturelle Fragen sein, die mit einem anderen kulturellen Hintergrund vertraut sind und Schüler und Eltern mit einem ebenso anderen Hintergrund besser verstehen.
Eine solche Sicht stellt die Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund in einen Kontrast zu den „nicht-anderen“ Lehrpersonen, die diesen „anderen“ Hintergrund angeblich nicht genügend kennen. Eine solche Rollenzuweisung dient sicherlich denen, die sich von den interkulturellen Aufgaben im Schulalltag entlasten wollen. Sie dient hingegen nicht jenen, die eigentlich auch normale und fraglos anerkannte Lehrpersonen sein möchten, ohne in subtiler Weise ausgegrenzt, auf ihre Herkunft reduziert und damit erneut „verandert“ – eben zu Anderen gemacht – zu werden.
Ungenutztes Potenzial
Deshalb erstaunt es auch kaum, wenn Unterrichtende mit familiären Einwanderungsgeschichten alles unternehmen, um ihre Herkunft nicht erkennen zu lassen. Sie verhalten sich dann äusserst assimilativ, das heisst, sie bringen beispielsweise ihre Herkunftssprachen nicht ein, wo dies hilfreich wäre – nur um nicht den Anschein zu erwecken, „anders“ zu sein. Zu stark waren und sind die erfahrenen Ausgrenzungen, als dass Hinweise auf die eigene Herkunft als Ressource eingebracht werden könnten. Dieses Verhalten ist durchaus nachvollziehbar; es entspricht aber kaum dem zugesprochenen Potenzial von „Lehrpersonen mit Migrationshintergrund“.
Fragen nach diesem besonderen Potenzial führen deshalb schnell ins Abseits. Einerseits, weil die Etikette „Migrationshintergrund“ nicht eindeutig ist und keine homogene, stabil existierende und klar abgrenzbare Gruppe bezeichnet. Je nach Nationalität oder ethnischer Zugehörigkeit haben die Betroffenen ganz unterschiedliche Erfahrungen mit Fremd- oder Anderssein gemacht – Erfahrungen, die prinzipiell auch Menschen ohne Migrationsgeschichte erlebt haben können.
Es ist keineswegs davon auszugehen, dass ein „Migrationshintergrund“ als quasi statisches, stabiles Merkmal für eine Person konstant und situationsübergreifend bedeutsam ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Etikettierung, die je nach Situation und Kontext von Bedeutung ist – oder eben auch nicht. Dass sie ein Potenzial für pädagogische Professionalität enthält, ist nicht auszuschliessen, aber keinesfalls ein Automatismus. Die notwendige Aufarbeitung gehört zu den Aufgaben der Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
Schulkultur als massgebendes Umfeld
Die Frage nach einem besonderen Potenzial führt auch deshalb ins Abseits, weil sie den Kontext ausblendet, in dem sich die Lehrpersonen mit Migrationshintergrund bewegen. Wenn Unterrichtende ihre Herkunft vertuschen müssen, um nicht „verandert“ und damit ausgegrenzt zu werden, stellt sich die Frage, wie eine Schulkultur beschaffen sein müsste, dass gegebenenfalls vorhandene Potenziale zur Entfaltung kommen können. Wie also lässt sich die monokulturell geprägte Institution Schule zu einer – wie es Ulf Over formuliert hat – „interkulturell kompetenten Schule“ öffnen?
Eine solche Öffnung erfordert einen konstruktiven Umgang mit sozialer Vielfalt und eine gemeinsam gestaltete Schulkultur. Die Perspektive verschiebt sich also weg von einzelnen Lehrpersonen, die etikettiert sind als Menschen mit Migrationshintergrund und deswegen auf ihr besonderes Potenzial hin befragt werden. Die Perspektive verschiebt sich vielmehr hin zu den ganzen Schulen und ihren Kulturen. Sie sind das massgebende Umfeld, das Vielfalt zulässt oder aber ausgrenzt – und damit die Nutzung multikultureller Potenziale zulässt oder aber verhindert.
Prof. Dr. Bruno Leutwyler war viele Jahre Lehrer auf verschiedenen Schulstufen und ist heute Leiter Forschung & Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zug.