Im Herbst, wenn die neuen, höheren Krankenkassenprämien ins Haus flattern, schütteln wir den Kopf und fragen uns: Hört das denn nie auf? Die Antwort: Nein. Wer ist schuld? Immer die Anderen. Oder genauer: alle Beteiligten – Bevölkerung, Politik, Ärzte, Spitäler, Apotheken, Krankenkassen – in unterschiedlichem Ausmass. Anspruchsmentalität der Gesellschaft, Kantönligeist, Egoismus, Intransparenz, falsche Anreize sind einige der Systemfehler.
Wovon reden wir eigentlich?
Genau gesagt reden wir von rund 71 Milliarden Franken jährlich, zurzeit. Soviel kostet die Finanzierung des Gesundheitswesens. Das nächste Jahr wird es mehr sein. Den Löwenanteil bezahlen heute die privaten Haushalte: 44 Milliarden (davon 26 Milliarden Prämien für die Grundversicherung). Der Staat steuert über die drei Ebenen Bund, Kantone, Gemeinden weitere 23 Milliarden Franken bei. Bleiben die Unternehmen, die ihrerseits 4 Milliarden berappen.
Um das deutlich auszudrücken: Die einzige Konstante im Gesundheitswesen ist die jährliche viel zu hohe Teuerung. Da dies keineswegs eine neue Feststellung ist und alle Beteiligten dieses unerfreuliche Ärgernis seit Jahren beklagen, muss die Vermutung aufkommen, die Intransparenz hinter diesem Phänomen werde einerseits von einer Mehrheit der Bevölkerung mit Achselzucken toleriert, andererseits von Leistungserbringern gewollt aufrechterhalten.
Unnötige Operationen
Die Akademie für Menschenmedizin schreibt auf ihrer Homepage (menschenmedizin.com): „Mit unzweckmässigen, weil unnötigen Operationen erhöhen Spitäler und Chirurgen ihre Einkommen. Chefärzte erhalten sogar Boni dafür. Das Gesetz schreibt vor, dass eine Behandlung sowohl ‚wirksam’ als auch ‚zweckmässig’ sein muss. Immer häufiger scheren sich Spitäler und Chirurgen keinen Deut darum.“ Wenn Quantität wichtiger wird als Qualität, läuten die Alarmglocken.
Tatsächlich wird unser Gesundheitssystem von Jahr zu Jahr nicht nur intransparenter, sondern auch auswuchernder. Gemessen an den Fallzahlen für lukrative Eingriffe in unseren Spitälern muss von einer hinter den Kulissen gesteuerten gezielten Überversorgung des Systems gesprochen werden.
Gemäss „NZZ am Sonntag“ nehmen die überflüssigen Eingriffe zu. Eine Comparis-Statistik zeigt zum Beispiel, dass die Zahl der Knie-, Hüft- und Rückenoperationen von 8’676 im Jahr 2003 auf das Zweieinhalbfache im Jahr 2014 hochgeschnellt ist. Comparis (comparis.ch) schreibt auf seiner Homepage: „Flecken auf dem Weisskittel: Jeder fünfte OP-Arzt und -Pfleger räumt bei einer Umfrage ein, dass in seinem Spital Patienten unnötig unters Messer kommen. Zudem zeigen Daten des Bundes erstmals: Lukrative Operationen haben stark zugenommen – bis zu 96 Prozent!“ Kommentar überflüssig.
Fallpauschalen und Medikamentenpreise als Treiber
Es scheint, als würden auch durch das System der Fallpauschalen falsche Zeichen gesetzt. Der Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger (mathias-binswanger.ch) schreibt: „Ein Beispiel sind die Fallpauschalen oder DRGs, die in der Schweiz seit dem Jahr 2012 gelten. Man versprach sich davon ursprünglich Kosteneinsparungen und eine verbesserte Effizienz in der Organisation von Spitälern. In Wirklichkeit wusste man im Jahr 2012 aber bereits, dass Fallpauschalen in der Praxis ganz andere Anreize setzen. Wie langjährige Erfahrungen im Ausland zeigen, führen Fallpauschalen nicht zu Kostensenkungen. Erstens ‚sparen‘ Spitäler nach der Einführung von Fallpauschalen vor allem dadurch, dass sie Kosten zulasten von Rehabilitationszentren, Pflegeheimen und der ambulanten Versorgung reduzieren, wo die Kosten dann entsprechend ansteigen. Und zweitens versuchen Spitäler möglichst viele und möglichst hohe Fallpauschalen herauszuholen.“
Schon 2010 hat der Preisüberwacher festgestellt, dass Ärzte und Apotheken an den Medikamenten zu viel verdienen. Der Bund will handeln: Er überprüft die Margen und will Parameter aktualisieren, um falsche Anreize zu verringern. Überprüfen, aktualisieren – komm‘ ich heute nicht, komm‘ ich morgen. Derweil spricht Santésuisse von einem Betrag von über 450 Millionen Franken, der sich jährlich einsparen liesse. Nur: Santésuisse ist die führende Branchenorganisation der Schweizer Krankenversicherer. Wie sagte ich einleitend: Wer ist schuld? Immer die anderen…
Keine effiziente Spitalplanung
Wie viele Spitäler es auf seinem Gebiet geben soll, bestimmt jeder Kanton für sich und seine Bevölkerung selbst. Millionen werden investiert – ohne Koordination mit den Nachbarkantonen. Noch gibt es im Land fast 300 Spitäler und Kliniken mit annähernd 25‘000 Betten, diese sind aber nur zu 80 Prozent ausgelastet. Längst wissen wir, dass wir viel zu viele (kleine) Spitäler unterhalten, die in der Folge natürlich auch viele teure, schlecht ausgelastete Geräte anschaffen wollen. Mit diesem „Wettrüsten“ halten wir eine weit überdimensionierte Infrastruktur aufrecht – mit entsprechenden Kostenfolgen.
Zu viele kleine Spitäler kosten nicht nur unnötig, sie haben auch für Patienten Nachteile: Viele Spitäler führen bestimmte Operationen zu selten durch, wie aus den neusten Vergleichszahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) hervorgeht.
Anreize für Spitalbehandlungen
Im Umfeld der bizarren Verzerrungen erstaunt es eigentlich nicht, dass ein weiteres Detail des heutigen Systems reformüberfällig ist. Es ist einleuchtend, dass ambulante Behandlungen weniger Geld kosten als Behandlungstage im Spital.
Da aber die Spitalkosten zu 55 Prozent durch die Kantone übernommen werden, ambulante Behandlungen jedoch durch die Krankenkassen, wurden jedoch die durchaus vorhandenen Ideen zur Verbesserung nie umgesetzt. Denn weil viele (kleine) Spitäler zwecks eigener Auslastung um Patienten buhlen, werden diese zu teuer, nämlich stationär statt ambulant, verarztet. Auch hier hat sich die Politik schon diverse Male mit diesen Fehlanreizen befasst.
Krankenkassen, Ärztetarif und Pflege in der Kritik
Es mag erstaunen, dass unsere Krankenkassen vergleichsweise wenig kritisiert werden. Allerdings gibt es auch hier Systemmängel, die durchaus Einfluss auf der Kostenseite haben können. So wird zum Beispiel kritisiert, dass unser Parlament zu stark von der Krankenkassen-Lobby beeinflusst werde und deshalb offensichtliche Mängel am Gesundheitssystem nicht mit der nötigen Konsequenz eruiert und behoben würden.
Dass die Krankenkassen jährlich Millionen in ihre Werbekampagnen investieren, ist ein öffentliches Ärgernis. Nicht nur, weil wir zum Beispiel die penetrante TV-Werbung als fragwürdiges Profilierungsmittel in einem geregelten Markt betrachten, sondern weil wir sie mit unseren hohen Prämienzahlungen selbst finanzieren müssen.
Blockierte Reform
Ärzte und Krankenkassen sind nicht in der Lage, sich auf neue zeitgemässe Arzttarife zu einigen. Diese gelten nun seit zwölf Jahren und sind längst überholt; darin sind sich eigentlich fast alle einig. Doch die Verbände der beiden Player sind so zerstritten, dass staatlich verordnete Preise bald nicht mehr zu umgehen sein werden. Das Ganze ist eigentlich ein Trauerspiel.
Avenir Suisse legt den Finger in ihrem Newsletter 2016/46 auf die immensen Kostenunterschiede im Pflegesegment der über Achtzigjährigen. Bei einer ganzheitlichen Betrachtung und einer Optimierung der kantonal unterschiedlichen Kostenstrukturen könnten 1,9 Milliarden Franken jährlich eingespart werden. Bedingung wäre, dass die teuersten Regionen ihre Aufwendungen auf die heutigen kantonalen Durchschnittskosten senken könnten. Bedenkt man, dass diese Altersgruppe in den nächsten zwanzig Jahren um über 80 Prozent wachsen wird, also um 19‘000 Personen jährlich, so ist das Spar- oder Optimierungspotenzial riesig.
Nur das Beste gut genug
Hand aufs Herz: Wenn uns etwas weh tut, springen wir zum Arzt. Oft wollen wir, sollte die Erstdiagnose problematisch oder unerfreulich sein, eine Zweitmeinung. Vielleicht möchten wir anschliessend noch den Rat des Komplementärmediziners? Hilft eine Therapie nicht, probieren wir die nächste. Müssen wir gar ins Spital, erwarten wir selbstverständlich Top-Betreuung, Top-Chirurgen, Top-Strukturen. Schliesslich bezahlen wir ja die hohen Krankenkassenbeiträge.
„Brauchen wir jedes Mal gleich ein MRI, wenn es im Knie zwickt? Müssen wir wegen eines Zeckenstichs sofort ins Spital?“ Solche Fragen stellt das Gesundheitsmagazin der Helsana Versicherung. Wohl nicht zu Unrecht werden wir daran erinnert, dass steigende Kosten auch steigende Prämien zur Folge haben. Unsere höheren Ansprüche sind das eine, neue Medikamente, die wirksamer und gleichzeitig viel teurer sind – auch die wollen wir – sind das andere. Und schliesslich bleiben die Inserate der Rehabilitations- und Präventionskliniken nicht ohne Wirkung, wenn es dort heisst: „Als Patientin will ich für meine Gesundheit nur das Beste!“
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass wir uns ein teures, aber gesamthaft gesehen hoch stehendes Gesundheitssystem leisten. Die immer höhere Lebenserwartung trägt auch dazu bei, dass die Gesundheitskosten kontinuierlich steigen und der technologische Fortschritt kostet viel Geld. Doch wenn mittlerweile bald ein Drittel der Versicherten Anspruch auf staatlich verbilligte Prämien hat und dies den Staat jährlich 4,1 Milliarden (2015) kostet, muss das zu denken geben.