Journal21 hat vor einigen Tagen das Urteil des BVerfG mit dem eines kopflosen Richters illustriert, weil dessen Haupt von seiner theatralisch-blutroten Matrosenmütze verdeckt wurde. Sehr treffend, ein Bild sagt hier alles. Die Karlsruher Richter liegen völlig falsch. Weder kann das BVG als nationales Gericht der EZB als supranationale EU-Institution irgendwelche Vorschriften machen, noch einem bereits erfolgten Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) widersprechen. Letzteres hat nämlich solche Anleihenskäufe bereits als legal erklärt.
Geteilte Souveränität
Jenseits aller juristischen Haarspalterei geht es um die Frage der geteilten Souveränität. Als Mitglied der EU hat Deutschland einen Teil seiner Souveränität an die Union abgegeben. Und hat damit anerkannt, dass die Urteile des EuGHs auch für Deutschland und deutsche Staatsbürger gültig sind.
Geteilte Souveränität ist heute eine Tatsache, die von den meisten Staatsrechtsexperten, eingeschlossen in der Schweiz, anerkannt und begrüsst wird. Da hat sich das Recht nämlich der gelebten Wirklichkeit angepasst. Wo im 19. Jahrhundert noch gestritten werden konnte, ob staatliche Souveränität absolut sei, ist heute längst anerkannt, dass der Staat ein noch immer zentraler, aber nur einer unter mehreren Souveränitätsträger ist. Die meisten Lebensbereiche, und damit ihre rechtliche Ordnung, der Bürger machen längst nicht mehr an den nationalen Grenzen halt.
Rechtskonservative Kläger
Das Urteil lässt an der Unabhängigkeit des BVerfG zweifeln. Das Gericht in Karlsruhe mit seiner formaljuristischen Doktrin, dass alle europäischen Rechtsakte, weil nicht im Grundgesetz vorgesehen, an sich rechtsungültig seien, ist zum Tummelplatz der Anti-Europäer geworden.
Diesmal sind die Kläger Bernd Lucke und Hans-Olof Henkel, die beiden geistigen Väter der AfD. Heute sind sie aus dieser teilweise post-nationalsozialistischen Partei ausgetreten, doch sie sind weiterhin einer zwar stubenreineren, aber weiterhin extremen Rechten zuzuordnen, welche gegen „Europa“ in jeder Form Sturm läuft. Das kennen wir doch aus der Schweiz, nicht wahr? In Deutschland ist deren Vehikel das BVerfG, in der Schweiz Initiative und Referendum.
Internationale Verurteilung
Das Urteil ist ausserhalb Deutschlands von allen Experten heftig kritisiert worden. Dass ein Kommentar dazu in der NZZ positiver ausgefallen ist, lässt sich mit dem aktuellen Kurs der „Alten Tante“ erklären, speziell in deren Deutschlandberichterstattung.
Sonst ist der Tenor eindeutig, in Frankreich („La Libération“), in England („The Economist“, „Financial Times“), vom südlichen Europa ganz zu schweigen. ECB-Präsidentin Christine Lagarde hat erklärt, dass sie das Urteil kalt lasse und wird darin von ihrem Gouverneursrat unterstützt. Der finnische Zentralbankchef und damit Ratsmitglied Olli Rehn, kein „Südländer“, meint, dass Karlsruhe dem höchsten europäischen Gericht in Frankfurt nichts vorschreiben könne; einige seiner Kollegen raten dringend davon ab, dem BVerfG auch nur zu antworten, da sonst ein Präzendenzfall entstehe.
Ein politisches Problem
Tatsächlich kann das deutsche BVerfG allein die deutsche Bundesregierung zu einer Antwort verpflichten. Diese kommt zu einem heiklen Moment, denn nichts weniger als die europäische Zukunft steht auf dem Spiel. Ohne eine unaufhaltsam und eindeutig in Richtung Vertiefung der Gemeinschaft rollende deutsch-französische Achse geht, zumal in einem Krisenmoment wie heute, nichts mehr in der EU. Und diese riskiert den Nationalpopulisten in Ungarn, anderswo in Osteuropa ebenso wie ihren Gesinnungsgenossen in Italien, Frankreich, der BRD, Österreich und den skandinavischen Staaten anheim zu fallen.
Bezeichnenderweise hat ein Vertreter der nationalistischen Regierungspartei Polens das Urteil bereits als bemerkenswert bezeichnet. Ganz zu schweigen von der Weltbühne, wo nur eine geeinigte und mit einer Stimme auftretende EU den autoritären Popanzen von Xi über Modi, Putin und Bolsonaro zu Trump die Stirne bieten kann.
Vertrauen in das offizielle Deutschland
Allerdings gibt es keinen Hinweis darauf, dass das offizielle Deutschland mit der Krise nationalistischer geworden wäre. Im Gegenteil. Friederich Merz, Kanzlerkandidat des konservativen Flügels der CDU hat eben erklärt, dass die kommenden Jahre für Europa entscheidend sein würden. Nicht den USA, nicht China sondern „Brüssel“ müsse das Hauptaugenmerkt geschenkt werden. Die Politik, mit einer klaren Mehrheit der Bürger, wird also wohl den kopflosen Kurs der Richter korrigieren. Damit wäre der Kreis wiederum zur schweizerischen Politik und deren rechts-nationalistischem Flügel geschlagen. Dessen aktueller europafeindlicher Ausfall, die Begrenzungsinitiative, wird am 27. September laut allen Voraussagen vom Volk versenkt werden.