Was verstehen wir unter Neutralität? Im Gefolge des Ukrainekriegs hat der Bundesrat auf Druck der Bevölkerung entschieden, die EU-Sanktionen gegen Russland vollumfänglich mitzutragen. Nur eine Partei opponiert.
Die Diskussionen um die Ausgestaltung der «immerwährenden Neutralität» der Schweiz gehen seit Februar 2022 hoch. Jetzt droht Christoph Blocher – der Übervater der SVP – gar mit einer Neutralitäts-Volksinitiative, um der Bevölkerung des Landes seine persönliche Interpretation, also den «richtigen» Weg, zu weisen. Darauf könnten wir verzichten.
Elemente unserer Neutralität
Das Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, in Zusammenarbeit mit dem Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten, nennt als «bestimmende Faktoren der schweizerischen Neutralitätspolitik … die Interessen des Landes, das Neutralitätsrecht, die internationale Lage sowie Tradition und Geschichte.» Diese Neutralität ist «selbstgewählt, dauernd und bewaffnet» (www.eda.admin.ch/).
Gemäss den Verfassungen von 1848, 1874 und 1999 wurde die Neutralität für die Behörden zu einer aussenpolitischen Norm, wie ergänzend erwähnt wird. Explizit wird präzisiert: «Diese Maxime wurde stets flexibel den Umständen angepasst und den Interessen des Landes entsprechend angewandt.» Damit ist eigentlich schon alles gesagt.
«Das Schweizer Verständnis von Neutralität ändert sich dieser Tage in einer Rasanz, die schwindeln macht» (Tages-Anzeiger) – stimmt das wirklich? Wer jetzt von Neuausrichtung spricht, hat vielleicht nicht ganz verstanden. «Flexibel angepasst» war schon immer ein wichtiges Element.
Kooperative Neutralität
Bundespräsident Ignazio Cassis wartete diesen Sommer mit der Bezeichnung «Kooperative Neutralität» als Schweizer Weg auf. Diese Formulierung ist begrüssenswert. Cassis bezeichnet sie ergänzend als die zielführendste Option für die künftige Ausrichtung der Schweizer Politik. Kooperationen suchen heisst ja: den Dialog suchen, das Gegenteil der Verteidigung einer sturen, vorgefassten Meinung, das Gegenteil auch der aggressiven Haltung autoritär regierter Staaten.
Denn – natürlich wurde die schweizerische Neutralität auch in den letzten Jahrhunderten flexibel, oft auch opportunistisch, gehandhabt. Dies geht bereits aus der «Geschichte der Schweizerischen Neutralität» aus dem Jahr 1895 von Paul Schweizer (1852–1932), a. o. Professor der Universität Zürich, hervor. Auf über tausend Seiten hat Paul Schweizer den Wandel des Begriffs und des Verständnisses der Schweizer Neutralität nachgezeichnet, minutiös, vor allem über die letzten 400 Jahre. Wer nur schon die Titel der einzelnen Kapitel liest, erahnt, wie facettenreich (flexibel) die Anwendungen (Interpretationen) sich folgten: von den «Verschiedenen Anwendungen» über die «Regelmässige, aber mehrmals verletzte Neutralität» bis zur «Vollständigen und exakten Neutralität (18. Jahrhundert)». Und weiter über die «Reine Neutralitätspolitik der neuesten Zeit (19. Jahrhundert)» bis zur «Ausbildung des modernen Neutralitätsrechtes seit 1848» – eben, die Schweizerische Neutralität im Wandel der Zeit …1
Der Begriff «Kooperative Neutralität» vermittelt auch den Gedanken, dass die Schweiz generell gut daran tut, im 21. Jahrhundert den Sonderfall Schweiz zeit- und wirklichkeitsnah zu interpretieren: Unser Land ist in Zeiten der Globalisierung mehr denn je auf Kooperationen mit unseren befreundeten Nationen in der EU (und der übrigen Welt) angewiesen. Schockartig ist vielen Schweizerinnen und Schweizern mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine über Nacht klar geworden, dass – hätte der Angriff uns gegolten – unser kleines Land auf sich allein gestellt, keine Verteidigungs- und Überlebenschance gehabt hätte.
Sturm im Wasserglas
Wenn im Jahr 2022 angesichts des Ukrainekrieges das Thema Schweizer Neutralität medial hochgekocht wird, lohnt sich ein kurzer Blick auf wesentliche Faktoren dieser helvetischen Politik. Besonders ins Auge springt dabei die ausführliche Beschreibung des Wertes für den inneren Zusammenhalt des Landes: «In der Schweiz mit mehreren Kulturen, Sprachen und Religionen diente die Neutralität stets auch dazu, den inneren Zusammenhang zu garantieren. So ist in der Geschichte der Grundsatz der Neutralität auch auf innereidgenössische Konflikte angewandt worden» (www.eda.admin.ch/).
Wenn jetzt von verschiedenen Seiten ob der richtigen Interpretation unserer Neutralität sozusagen ein künstlicher Sturm im Wasserglas erzeugt wird, fragen wir uns, ob dies schon als «innereidgenössischer Konflikt» oder doch eher als parteipolitische Propaganda bezeichnet werden muss. Einzelne Medien haben den Entscheid des Nationalrats vom Juni 2022, die Schweiz solle künftig bei Verstössen gegen das Völkerecht eigenständige Sanktionen gegen fehlbare Staaten ergreifen dürfen, als Neuinterpretation der Schweizer Neutralität bezeichnet und die Frage gestellt, ob das Volk damit einverstanden sei.
Angesichts der wechselhaften Geschichte und Interpretation unserer Neutralität in der Vergangenheit ist die Zuordnung zur parteipolitischen Propaganda wohl eher zutreffend. Wenn sich Herr Blocher bemüssigt fühlt, mit einer Volksinitiative das Volk zu belehren, und dabei von seinem devoten Mitstreiter Roger Köppel wie immer unterstützt wird (Köppel: «Dieses Gesetz bedeutet massive Aufrüstung. Damit bewaffnet sich die Schweiz bis an die Zähne», Tages-Anzeiger), dann ist dies ein weiterer Schachzug aus einem in letzter Zeit immer schwächer wirkenden Arsenal rechtspopulistischer Agitation. Das Volk wird bei einer eidgenössischen Abstimmung (sollte es überhaupt dazu kommen) die Frage richtig beantworten.
Parteipolitischer Alltag in der Schweiz
Es gehört in unserem Land zur täglichen Routine, dass sich Politikerinnen und Politiker aus allen Lagern gegenseitig bekämpfen. Ob sich das Thema Neutralität als Wahlpropaganda in Hinsicht auf die Erneuerungswahlen 2023 dazu eignet, darf hinterfragt werden.
Auch Wladimir Putin soll sich tatsächlich mit diesem Thema persönlich befasst und die Abkehr der Schweiz von ihrer bisherigen Neutralitätspolitik kritisiert haben (dies «werde Konsequenzen haben», Tages-Anzeiger). Auch wenn dies so geschehen wäre – es darf ja wirklich nicht vorausgesetzt werden, dass Politiker auf der ganzen Welt «die Geschichte der Schweizerischen Neutralität», wie oben beschrieben, einst in der Schule gelernt hätten.
Hingegen sollte uns bewusst sein, dass das polemische Eingreifen in den Schweizer Politalltag, insbesondere das permanente Kritisieren der Entscheide des Bundesrates, das seit Jahren bekannte Markenzeichen eines populistischen Mannes und seiner Volkspartei ist, die in ihrem Parteiprogramm «frei und sicher» versprechen («Ich will’s, ich wähl’s»), als wären diese fundamentalen Werte je von irgendjemandem garantierbar gewesen.
Keinesfalls darf die Schweiz – in einer Welt der raschen geopolitischen Veränderungen – ihre Strukturen, Institutionen und Interpretationen unter Denkmalschutz stellen.
1 Paul Schweizer: «Geschichte der Schweizerischen Neutralität». Frauenfeld: J. Huber, 1895 (1032 Seiten)