Die Stimmung war angespannt. Zur Sitzung im Haus der Organisation„FemeninaPopular“ (OFP) in der kolumbianischen Erdölstadt Barrancabermeja waren auch Vertreter der Armee, der Polizei und des Geheimdienstes eingeladen.„Sie sollen wissen, wer wir sind, was wir tun und wohin wir gehen.Denn sie sind es, die für unsere Sicherheit verantwortlich sind,“ erklärte mir Yolanda Becerra die Anwesenheit der ungewöhnlichen Gäste.
Schutz und Beratung für Frauen
In Barrancabermeja, einem Brennpunkt sozialer Konflikte in Kolumbien, leitet Yolanda Becerra die OFP, die in den 70er Jahren entstanden ist.Inzwischen hat die Organisation im ganzen Land viele Zentren eröffnet. Dort finden Frauen Schutz und Beratung, die unter dem Bürgerkrieg am meisten zu leiden haben, der dieses Land seit mehr als 40 Jahren terrorisiert.
„Das genügt aber nicht,“ gibt Becerra zu bedenken. „Wir müssen alle Frauenorganisationen des Landes gegen den Krieg mobilisieren.“ Gleichzeitig sind Gewalt und Krieg für die OFP nur Folgen viel tieferer Ursachen. Dazu die Aktivistin: „Wir sind eine Basisbewegung, leisten aktiven Widerstand und fordern Reformen, die einflussreiche Kräfte in Kolumbien verhindern wollen. Und das ist der Grund, warumwir seit Jahren in einem Klima der ständigen Bedrohung leben...“
Im gepanzerten Wagen
Das Gespräch in Barrancabermeja fand im Januar 2003 statt. Vor kurzem habe ich Yolanda Becerraerneut getroffen. Diesmal in einem Hotel in Zürich. Ich erinnerte mich, was ich 2003 im Haus der OFP erlebt und was die Kolumbianerin damals über die prekäre Sicherheitssituationihrer Organisation berichtet hatte. Offensichtlich nicht ohne Grund: Yolanda Becerra wurde im November 2007 in ihrem Haus überfallen und misshandelt. Zwei ihrer Kolleginnen wurden ermordet. Ein Mitglied der OFP ist ins Ausland geflohen.
Becerra selber musste Barrancabermeja verlassen und lebt in einer Nachbarstadt.Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat die kolumbianische Regierung verpflichtet, Becerra zu beschützen. Die 51-jährige Frau bewegt sich seither in einem gepanzerten Wagen in Begleitung von zwei Leibwächtern, die auf Wunsch der Bewachten keine Waffe tragen.
Neue Regierung – alte Politik
Yolanda Becerra erweckt nicht den Eindruck einer ständig vom Tod bedrohten Frau. Auch wenn sie die Situation in Kolumbien analysiert, bleibt sie ruhig und sachlich: „Ja, seit gut einem Jahr gibt es in Kolumbien mit Präsident Santos eine neue Regierung. Nach seinem polarisierenden Vorgänger, Uribe, der aus dem Milieu der Grossgrundbesitzer kommt, wirkt der städtische Grossbürger Santos diplomatisch und geschliffen. Die langfristige Strategie der Politik des Staates hat sich aber nicht geändert.
Auch Santos glaubt an einen militärischen Sieg gegen die Farc-Guerilla. Es fehlt der Wille, den Konflikt politisch zu lösen. Das heisst auch: Die Ursachen des Konflikts werden weiterhin nicht anerkannt. Die Armut im Volk wächst täglich. Die durch den Krieg geschwächte Zivilbevölkerung muss ohnmächtig zusehen, wie multinationale Unternehmen, darunter auch aus der Schweiz, die Ressourcen des reichen Landes ausbeuten. Um Megaprojekte, zum Beispiel Monokulturen von Ölpalmen zur Produktion von Agrotreibstoffen, riesige Kohlen – oder Goldminen zu realisieren, werden Kleinbauern, Indigene und Afrokolumbianer vertrieben. “
Wachsende Militarisierung
Becerra verweist auf die Protestbewegungen der Studenten, die in der Hauptstadt Bogota gegen eine noch stärkere Privatisierung der Hochschulen demonstrieren. Der Staat will 650 000 zusätzliche Studienplätze schaffen, ohne das Budget zu erhöhen. In Wirklichkeit protestieren die Studenten auch gegen eine zunehmende Militarisierung des Landes.
Für viele Jugendliche, vor allem auf dem Land, sind die Armee, die Guerilla und die paramilitärischen Gruppen die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Für einen Soldaten gibt der Staat pro Jahr umgerechnet 9000 Franken, für einen Studenten 1 500 Franken aus. Becerra meint dazu:„Einerseits werden immer mehr Mittel in einen Krieg gesteckt, der angeblich Frieden schaffen soll. Anderseits verschärfen sich die soziale Polarisierung und die Armut , also jene Ursachen, die den Konflikt ausgelöst haben. In Kolumbien tickt eine Zeitbombe.“
Demokratische Fassade und Realität
Vor kurzem wurde ein ehemaliger Kämpfer der mittlerweilen aufgelösten Guerilla-Organisation M-19 zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. Ist das nicht ein Zeichen, dass auch die Farc heute ihren Kampf als Partei mit politischen Mitteln weiter führen könnte ? Dazu Becerra: „Kolumbiens politische Elite hat es immer verstanden, Fassaden zu errichten, die den Anschein von Demokratie erwecken. Das war und ist ihre Strategie, um den Staat zu legitimieren. Die Wahl des Bürgermeisters von Bogot´a ist ein solches Beispiel. Oder: Den Posten des Vizepräsidenten Kolumbiens hat man einem linken Politiker überlassen, weil es ein rein dekoratives Amt ist.“
Den Anschein erwecken, dass sich etwas ändert, wollte Präsident Uribe, als er 2005 anordnete, die Paramilitärs zu demobilisieren. „Davon ist in meiner Region nichts zu spüren,“ berichtet Yolanda Becerra. „Die gleichen Organisationen existieren einfach unter neuen Namen weiter. Sie kontrollieren die militärischen, politischen Institutionen, die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und können so die ganze Bevölkerung als Geisel nehmen.
Die Demobilisierung war eine Farce. Die Paras waren eine Konstruktion des Staates und konnten gar nicht aufgelöst werden, weil sie den Staat bis hinauf zum Präsidenten, in die obersten Ränge der Armee und im Parlament infiltriert hatten.“
Neuer schwerer Zwischenfall in Barrancabermeja
Während des Gesprächs erhält Yolanda Becerradringende Anrufe aus Kolumbien. Am Vortag ist ein führendes Mitglied der OFP in ihrem Haus überfallen worden. Die Frau und ihre Familie erhielten Todesdrohungen, Computer und Festplatten wurden entwendet.Becerra informiert sich und gibt Anweisungen.
„Nach solchen Ereignissen benachrichtigen wir sofort unsere Partnerorganisationen im Ausland. Wir bitten sie, die kolumbianischen Behörden aufzufordern, den Vorfall gründlich zu untersuchen. Ohne Druck aus dem Ausland sind wir hilflos. Auch eindeutige Vergehen gegen die Menschenrechte werden von den Behörden regelmässig als kriminelle Verstösse abgetan. Wir müssen zuerst beweisen, dass sie politisch motiviert sind. Die meisten Fälle werden aber nicht aufgeklärt. Es herrscht Straflosigkeit.“
Ausgezeichnet mit dem Paul-Grüniger-Preis
Die OFP wird vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) unterstützt und hat dieses Jahr den Paul-Grüninger Preis erhalten. Der Preis erinnert an den St. Galler Polizeikommandanten, der 1938 und 1939 Hunderten von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland das Leben gerettet hat.
Link: Der Kolumbien - Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) 2011 bietet neue Statistiken und Analysen. www.pnud.org.co