„In Syrien findet ein kleiner Weltkrieg statt, und er wird lange, sehr lange dauern.“ Diese Beschreibung mag übertrieben und beängstigend klingen, doch sie kommt der Realität ziemlich nahe. Und wie man zu dieser Äusserung auch stehen mag: Man kommt nicht umhin, sie sehr ernst zu nehmen. Denn sie stammt von jemandem, der im Iran zu den wichtigsten Entscheidern dieses Dramas gezählt wird.
Nüchterne Stimme der Macht
Ali Akbar Velayati ist sein Name, und er ist offiziell aussenpolitischer Berater Ayatollah Ali Khameneis, des mächtigsten Mannes des Iran. Velayati, ein in den USA ausgebildeter Kinderarzt, war 16 Jahre lang iranischer Aussenminister und leitet derzeit in Teheran ein Institut für strategische Studien.
Bei seinen öffentlichen Auftritten meidet der Siebzigjährige grundsätzlich die in der islamischen Republik übliche Propagandasprache. Hier spricht ein Mann mit Welterfahrung; so der Eindruck, den er mit seiner Nüchternheit bei jedem Interview, jeder Diskussion hinterlassen möchte. Velayati und nicht der stets lächelnde Aussenminister Javad Zarif gilt als nüchterne und rationale Stimme Khameneis.
Am vergangenen Samstag, gerade von einer einwöchigen Rundreise durch Syrien, Libanon und den Irak zurückgekehrt, präsentierte Velayati im iranischen Fernsehen eine Art Reisebilanz. Er hatte bei diesen „Frontbesuchen“ mit dem syrischen Präsidenten Baschar Al Assad, dem libanesischen Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah und anderen verbündeten Kriegsfürsten gesprochen. Und was Velayati in diesem halbstündigen Fernsehauftritt mitzuteilen hatte, verheisst nichts Gutes, weder für das geschundene Syrien noch für andere Bürgerkriegsländer der Region – auch nicht für die Zeit nach einem möglichen Sieg der Weltgemeinschaft über den IS.
Differenzen mit Russland
„Assad ist unsere rote Linie.“ Unter dieser Schlagzeile erschien am nächsten Tag in radikalen Zeitungen dieses bemerkenswerte Fernsehinterview. Jede ausländische Macht, die in irgendeiner Weise in Syrien mitmische, verfolge eigene Ziele. Nicht einmal die europäischen Länder hätten eine gemeinsame Strategie, obwohl ihre Flugzeuge täglich Syrien bombardierten. Kurzum, auf dem Schlachtfeld Syrien könne man weder von echten Koalitionen noch von gemeinsamen Fronten sprechen, so Khameneis Berater.
Am interessantesten wurde das Interview, als Velayati über die russische Intervention in Syrien sprach. Der Iran begrüsse und unterstütze momentan das russische Engagement, so Velayati. Doch die Betonung liegt auf dem Wort „momentan“, und damit kein Missverständnis aufkommt, fügte er sofort hinzu: „Zwischen Iran und Russland gibt es Meinungsverschiedenheiten, vor allem, was die Zukunft Syriens angeht.“
Durchhalteparolen
Diese beispiellose Offenheit ist in Wahrheit eine Art Durchhalteappell. Denn je mehr die menschlichen und materiellen Opfer des iranischen Engagements in Syrien steigen, um so mehr geraten die Machthaber in Teheran in Erklärungszwang.
Was Velayati diplomatisch formulierte, erzählte am nächsten Tag General Ali Fadawi, Kommandant der iranischen Marine, deutlicher. Auf einer Trauerveranstaltung für einen in Syrien gefallenen Revolutionsgardisten in der südiranischen Stadt Schiraz fand der General verständliche und klare Worte: „Unsere Märtyrer in Syrien sind unser Beweis dafür, dass die islamische Revolution keine geographische Grenzen kennt“, so der Befehlshaber.
Ende der Geheimniskrämerei
Solche unverblümten Worte und demonstrativen Trauerveranstaltungen für gefallene Revolutionsgardisten werden dieser Tage zur Normalität. Die Geheimniskrämerei ist vorbei, die verklausulierte Sprache hat sich geändert. Es ist nicht mehr von erfahrenen älteren Militärberatern die Rede, die in Syrien ihren Dienst täten, sondern von Märtyrern, die die heiligen Stätten auf dem Schlachtfeld verteidigten. Am vergangenen Freitag fand in Teheran sogar eine Begräbniszeremonie für einen in der Nähe Aleppos gefallenen 20-Jährigen statt.
Auf die Frage, warum die Zahl der gefallenen Iraner in Syrien steige, während gleichzeitig deren Alter sinke, hatte Esmail Koussari, Mitglied der Kommission für nationale Sicherheit im Parlament, eine merkwürdige Erklärung. „Unsere Militärberater brauchen in Syrien Leibwächter und nehmen dafür junge Begleiter mit, deshalb das sinkende Alter“, so Koussari, der selbst Kommandant der Revolutionsgarden war, bevor ins Parlament eintrat.
Rekrutierung afghanischer Immigranten
Demonstrative Offenheit hin, steigende Propaganda her, die Begeisterung der Iraner für den Kampf in Syrien hält sich in Grenzen. Nur die sehr überzeugten Mitglieder der paramilitärischen Verbände sind offenbar bereit, im syrischen Bürgerkrieg zu sterben. Die Revolutionsgarden setzen inzwischen auch auf Afghanen, die im Iran leben. Die nach Fatima, einer Tochter des Propheten Mohammed, benannte Brigade Liwa Fatemiyoun hat bereits Hunderte afghanischer Einwanderer im Iran ausgebildet und nach Syrien geschickt.
Was die jungen Afghanen in den syrischen Bürgerkrieg zieht, islamische Ideologie oder Geld oder beides zusammen, bleibt ungewiss. Angaben der Brigade zufolge verdienen die Kämpfer 500 Dollar im Monat und erhalten zudem eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für den Iran. Nach einem Bericht, der Anfang Dezember der aussenpolitischen Kommission des US-Senats vorlag, sind bis Mitte Oktober 20 Afghanen und 10 Pakistanis in Syrien gefallen, die von den iranischen Garden rekrutiert worden waren.
Keine Gemeinsamkeit zwischen USA und Iran?
Die eigentliche Intention dieses Berichts war, die strategischen Differenzen zwischen den USA und dem Iran auf dem Schlachtfeld Syrien offenzulegen. Beide kämpfen nur vordergründig gegen einen gemeinsamen Feind. Für den Iran ist der Sieg über den IS kein Selbstzweck, sondern nur ein kleiner Schritt zu einem grösseren Ziel. Das lautet: Syrien als Brückenkopf zur Hizbollah im Libanon zu erhalten und zu sichern.
Deshalb bleibt der Iran trotz Atomabkommen und seinem moderaten Präsidenten für die USA das Land, das es immer war: Unterstützer von Terroristen. Das beste und aktuellste Beispiel für diese Haltung liess sich nach dem Terrorakt im kalifornischen San Bernardino beobachten. Nur wenige Tage nach dem Attentat entschied das US-Repräsentantenhaus, dass künftig jeder für die USA ein Visum brauche, der Syrien, den Irak oder den Iran besucht hat. Merkwürdig: Unter den Opfern des Terroranschlags war auch eine Iranerin. Doch es sind Saudi-Arabien und Pakistan, jene Länder, aus denen die Terroristen stammten, die von der Verschärfung der Reisebestimmungen verschont bleiben.
Der Beitrag ist erschienen auf der von Transparency for Iran betriebenen Website Iran Journal unter dem Titel „ Der Sieg über den IS ist nur der erste Schritt“.