Zwei neue Umfragen – eine zu den bilateralen Verträgen, die andere mit Fokus auf die Zuwanderung – zeigen, dass eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine Réduit-Schweiz, wie sie der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise vorschwebt, ablehnt.
Die SVP und andere nationalkonservative Gruppierungen machen auf Abschottung der Schweiz. Sie sind dabei zurzeit gleich auf vier Politikfeldern aktiv. Erstens versuchen sie, die Bilateralen III zu torpedieren, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit den Bilateralen III will die Schweiz unter anderem wieder geregelte Beziehungen zur EU herstellen, den teilweise hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die EU-Forschungs- und Bildungsprogramme erreichen. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.
Zweitens soll mit der sogenannten Nachhaltigkeitsinitiative eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz verhindert werden. Das ist faktisch nur möglich, wenn das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt wird. Die Personenfreizügigkeit ist ein Kernelement der bilateralen Verträge mit der EU und wesentlich mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz.
Drittens soll mit der Grenzschutzinitiative insbesondere die illegale Migration in die Schweiz eingedämmt werden. Dazu soll es wieder systematische Kontrollen von Einreisenden an den Schweizer Grenzen geben. Sollte dies nicht vereinbar sein mit internationalen Abkommen, soll der Bundesrat neu verhandeln. Sollte dies nicht gelingen, sollen die Abkommen auf den nächstmöglichen Termin gekündigt werden. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Ferner sieht der Initiativtext vor, dass der Bundesrat ein jährliches Asylverfahrenskontingent von höchstens 5000 Personen festlegen kann. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.
Viertens soll mit der Neutralitätsinitiative eine rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankert werden. Damit würden der Schweiz unter anderem «nichtmilitärische Zwangsmassnahmen» gegen kriegführende Staaten untersagt. Damit gemeint sind Sanktionen, wie sie die Schweiz zurzeit etwa gegen Russland, das die Ukraine angegriffen hat, mitträgt. Die Schweiz dürfte also in Zukunft in einem Konflikt zwischen Staaten nicht mehr zwischen Aggressor und Opfer unterscheiden und den Aggressor verurteilen, was gegen die Uno-Charta verstösst. Die Annahme dieser Initiative würde die schweizerische Aussenpolitik noch zahnloser machen, als sie das jetzt schon ist – sie würde sie vollständig entmündigen.
Im Namen der Souveränität
All diese Machenschaften und Initiativen der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise sind gegen eine welt- und europaoffene Schweiz gerichtet. Sie wollen, dass sich die Schweiz abschottet und ins Réduit zurückzieht – dies im Namen einer masslos überhöhten Souveränität, die es absolut in der heutigen global vernetzten Welt nicht mehr gibt.
Aber wollen das auch die Schweizerinnen und Schweizer? Zwei neue Umfragen zeigen, dass das eine klare Mehrheit anders will. Da wäre einmal die Umfrage «Standort Schweiz 2024 – Europafragen», die gfs.bern im Auftrag des Branchenverbands Interpharma diesen Sommer durchgeführt hat. Danach sieht eine deutliche Mehrheit von 65 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen Schweiz-EU. Sie schätzen etwa den teilweisen hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt (84 Prozent) sowie zu den Bildungs- und Forschungsprogrammen der EU (82 Prozent). Als Vorteil gesehen wird auch die Möglichkeit, überall in der EU wohnen, arbeiten und studieren zu können (77 Prozent).
Als Nachteile der bilateralen Verträge gesehen werden unter anderem der Druck auf die einheimischen Löhne durch die Personenfreizügigkeit (63 Prozent) und die höheren Miet- und Immobilienpreise aufgrund der Zuwanderung aus der EU (61 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten ist auch der Meinung, dass die Zuwanderung aus der EU eine Belastung für die Sozialwerke darstellt (56 Prozent).
Weil die Vorteile des Bilateralismus überwiegen, finden es 79 Prozent der Befragten richtig, dass die Schweiz Verhandlungen mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket aufgenommen hat. Dabei ist die Stimmbevölkerung durchaus bereit, in umstrittenen Fragen Kompromisse der Schweiz mit der EU zu akzeptieren. Besonders deutlich ist das beim vom Gewerkschaftsbund zur heiligen Kuh erhobenen Lohnschutz (85 Prozent) und bei der Öffnung des Schweizer Strommarkts (63 Prozent). Knapp sind die Mehrheiten dagegen bei der Übernahme von EU-Recht im Rahmen bestehender Verträge, wenn dabei im Gegenzug das Referendumsrecht nicht ausgehebelt wird (55 Prozent), und bei der Anerkennung einer Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Rahmen von Vertragsstreitigkeiten (50 Prozent). Auf der anderen Seite wäre nur eine Minderheit bereit, einen Kompromiss bezüglich der Übernahme der Unionsbürgerschaft einzugehen (47 Prozent). Insgesamt wären 71 Prozent der Stimmberechtigten mit einem Vertragspaket mit solchen Kompromissen einverstanden.
Zuwanderung bereitet Sorgen
Die gfs-Umfrage zu den bilateralen Verträgen zeigt es: Die Zuwanderung aus der EU bereitet den Schweizerinnen und Schweizern Sorge. 65 Prozent von ihnen beunruhigt denn auch die Aussicht auf eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Trotzdem lehnt eine klare Mehrheit von 61 Prozent der Befragten einen Zuwanderungsstopp ab. Das sind Resultate einer aktuellen Umfrage von Demoscope im Auftrag des Projekts Chancenbarometer 2024 der Larix Foundation. Vorschläge zur Regulierung der Zuwanderung aus der EU, Eingriffe in die Personenfreizügigkeit mit der EU sowie Massnahmen zur Stärkung des inländischen Arbeitskräftepotenzials finden aber breite Zustimmung. So wird etwa die Idee eines Punktesystems für Zuwanderer von 65 Prozent der Befragten unterstützt. Einer Zuwanderungsgebühr könnten 53 Prozent etwas abgewinnen. 63 Prozent der Stimmberechtigten sind für die Abschaffung der Heiratsstrafe, 70 Prozent sprechen sich für mehr Entlastungen bei der Kinderbetreuung aus und 73 Prozent sehen in der Flexibilisierung des AHV-Alters einen Lösungsansatz.
Die Befragten sehen aber auch einen wichtigen Vorteil der Zuwanderung: Sie begünstigt das Wirtschaftswachstum. 56 Prozent finden denn auch, dass die Schweiz auch in Zukunft auf ein Wirtschaftswachstum ähnlich wie in den vergangenen Jahren angewiesen ist.
Die Umfragen von gfs.bern und Demoscope zeigen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für die Verhandlungen über die Bilateralen III und gegen einen Zuwanderungsstopp ausspricht. Sie wollen keine Abschottung der Schweiz und keinen Rückzug ins Réduit, wie sie die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise anstreben. Dabei haben sie ein durchaus differenziertes Bild der bilateralen Verträge und der Zuwanderung. Sie sehen nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. In der Gesamtschau aber finden sie, dass die Schweiz ein geregeltes Verhältnis zur EU und eine massvolle Zuwanderung braucht.