Ist die Wahl des Datums zufällig? Immerhin markiert der 21. Februar (im Iran der 3. Esfand) in der iranischen Geschichte eine Zäsur, manche sagen, eine Zeitenwende. An diesem Tag fand vor genau 100 Jahren die Qajarendynastie durch einen Militärcoup ihr Ende. Es begann die Ära der Pahlewis und der Eintritt des Iran in die Moderne. Vor der Islamischen Revolution feierte man deshalb den 3. Esfand als Tag der nationalen Wiedergeburt. Das ist lange her, 42 Jahre.
Nun soll am kommenden 3. Esfand wieder Geschichte geschrieben werden, wenn auch eine andere, makabre. Laut einem Beschluss des von Hardlinern kontrollierten Parlaments soll die iranische Regierung an diesem Tag das Zusatzprotokoll des Atomsperrvertrags kündigen, es sei denn, die USA heben ihre Sanktionen gegen den Iran bis dahin auf.
Dieses Protokoll sieht unter anderem die unangemeldete Kontrolle und den freien Zugang internationaler Inspektoren zu allen gewünschten Atomanlagen vor. Auch Aus- und Einfuhren von Nuklearausrüstung dürfen sie inspizieren.
Gefahr für Joschka Fischers Erbe
Wann und warum die Islamische Republik diesem Vertrag beitrat, ist eine dramatische Geschichte. Es war eine aufregende Zeit, jener Herbst 2003, als drei europäische Aussenminister gemeinsam eilig nach Teheran reisten, um den dort Herrschenden klarzumachen, warum sie dieses Protokoll unbedingt unterzeichnen müssten, wenn sie einen bevorstehenden Krieg vermeiden wollten.
Das war keine leere Drohung. Die Welt war in jenen Tagen gerade aus dem Trauma des 11. September erwacht und wurde Zeugin von zwei Kriegen, die die USA in den Nachbarländern des Iran führten. Nach Afghanistan und dem Irak könne bald auch der Iran an der Reihe sein, der sich auf der „Achse des Bösen“ befinde, warnte wiederholt der damalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer (Grüne). Die Mission des EU-Triumvirats wurde am Ende zu einem Etappensieg. Der Iran unterzeichnete am 18. Dezember 2003 das Protokoll. Ein Aufatmen ging durch die Welt, es entstand eine vorübergehende Pause und die Voraussetzung für jenes Atomabkommen, das 2015 unterzeichnet wurde, dessen Fortbestand aber inzwischen dank Donald Trump ungewiss ist.
Khamenei will keine Verhandlung
Nun will der neue US-Präsident Joe Biden zurück zu diesem Abkommen. Eine solche Rückkehr soll aber für Biden zu einer Art Canossagang werden, so propagieren es jedenfalls die Hardliner in Teheran. So merkwürdig und widersprüchlich es auch klingen mag: Der ominöse Parlamentsbeschluss in Teheran dient nur dazu, dass sich Biden schleunig und reuig auf den Weg macht.
Diese Ouvertüre hat Ayatollah Khamenei lange vorbereitet. Es werde weder einen Krieg geben noch Verhandlungen – das wiederholte er in den vergangen Monaten so oft, bis jeder im Land wusste: Khamenei werde hartnäckig bleiben und trotzdem brauche niemand Kriegsangst zu haben. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt sagte er: „Ob die USA zu dem Abkommen zurückkehren möchten oder nicht, ist nicht unser Problem. Wir haben keine Eile. Was wir wollen, ist das Ende der ungerechten Sanktionen.“
Khameneis Satz ist mehrdeutig, für Eingeweihte ebenso wie für Ausstehende. Übersetzen könnte man ihn so: Er will eine schnelle Aufhebung der Sanktionen, Joe Biden möge seine Rückkehr zum Atomabkommen selbst organisieren. Doch alle, einschliesslich Khamenei, wissen, dass das Ende der Sanktionen ohne Verhandlungen nicht denkbar ist.
„Heldenhafte Biegsamkeit“
Eine lautlose Rückkehr zum Atomabkommen, am besten eine Vereinbarung hinter verschlossenen Türen, wie Khamenei sie sich wünscht, wird Biden weder können noch wollen. Also wird der Iran öffentlich verhandeln müssen. Und wenn der Tag kommen sollte, wird Khamenei auch die dazu notwendige Flexibilität zeigen – allen verbalen Attacken und öffentlichen Dementis zum Trotz. Denn „die Rettung des Systems ist das Gebot aller Gebote, dafür kann, ja muss man sogar das tägliche Gebet oder das Fasten hintenan stellen“. Dieser Satz von Ayatollah Ruhollah Chomeini, dem Gründer der Islamischen Republik, ist für Khamenei und für alle Zeiten wegweisend.
„Heldenhafte Biegsamkeit“ nannte er 2015 seine Flexibilität zum Atomabkommen. Welchen Namen er seiner Beweglichkeit diesmal verleihen wird, ist wohl nur für Satiriker oder Sprachforscher interessant. Bald werden wir es erfahren. Aber wann?
Khamenei steckt in einem Zeitdilemma. Rouhani und sein Aussenminister Mohammed Javad Zarif sind nur noch wenige Monate im Amt. Ihnen solle eine junge, revolutionäre Regierung folgen, sagt Khamenei seit einem Jahr immer wieder. Für ihn ist die Zeit der Reformer, der Moderaten oder wie immer sie sich nennen mögen, endgültig vorbei. Wie bei Justiz und Parlament will er auch an der Spitze der Exekutive einen Hardliner sehen, der ihm vollkommen ergeben ist.
Auf iranischen Webseiten sind es in diesen Tagen deshalb ausschliesslich Namen von Kommandanten der Revolutionsgarde, die als präsidial präsentiert werden. Und sie alle geben sich prinzipientreu, entschlossen und revolutionär; manche betonen dazu ihre Managementerfahrung in den Wirtschaftsimperien der Garde, andere kokettieren mit ihrem Alter.
Wer auch immer es sein wird: In diesem Juni wird es im Iran einen neuen Präsidenten und einen neuen Aussenminister geben, die die Verstellungskunst in höchster Perfektion darbieten müssen: entschlossen und „revolutionär“ nach innen, gesprächs- und kompromissbereit nach aussen. Keine Signale der Zaghaftigkeit oder des Abwägens. Solch widersprüchliches Verhalten kann sich ein tief religiöser Schiit erlauben. Denn im Schiismus ist Verstellung Pflicht, wenn Höheres auf dem Spiel steht. Und gibt es etwa Höheres auf der Welt als den Schutz der Islamischen Republik? Wohl kaum.
Die Zeit arbeitet für Biden und gegen Khamenei
Aber bis Juni, bis zu den „Wahlen“ im Iran, kann Khamenei nicht warten. Die Kassen der Regierung sind leer, normale Ölexporte gibt es nicht, weil der Iran keine Bankverbindungen zur Aussenwelt hat. Die Coronapandemie grassiert, und Khamenei demonstriert, wie fahrlässig er mit dem Leben der Iraner umgeht: Kurzerhand hat er die Einfuhr westlicher Impfstoffe verboten. Dabei geht im Land das Gerücht um, Khamenei und seine Familie hätten längst ihre Biontech-Impfstoffe erhalten. Die kommenden Wochen und Monate werden zu einem schicksalhaften Abschnitt seiner fast 32-jährigen Herrschaft werden.
Eine schnelle Aufhebung der US-Sanktionen ist nicht in Sicht, obwohl Joe Biden im Weissen Haus sitzt. Von dem Beschluss des iranischen Parlaments, bis zum 21. Februar aus dem Zusatzprotokoll auszusteigen und die internationalen Atominspektoren aus dem Land zu werfen, zeigt sich die neue US-Administration kaum beeindruckt.
Die Zeit arbeitet für Biden und nicht für Khamenei. Trumps Sanktionen sind in diesen Tagen für Biden sehr nützlich: Er kann sich Zeit lassen.
Zarif ruft die Europäer zu Hilfe
Vergangene Woche rief der iranische Aussenminister in einem CNN-Interview die Europäer zur Hilfe. Der aussenpolitische Chef der Europäischen Union, Josep Borrell, solle einschreiten, er könne sogar entscheiden, wer welchen Schritt zurück zum Abkommen unternehmen solle. Mehr noch: Borrell könne als Koordinator, als Choreograf alles überwachen, was der Iran und die USA im Rahmen des Atomabkommens täten, so Zarif.
Ginge es um Borrell allein, würde er Zarifs Vorschlag sofort akzeptieren, denn man sagt ihm gute und wohlwollende Beziehung zum Iran nach. Doch was die EU als Ganzes in diesem Konflikt will und kann, ist nicht klar. Wie immer gibt es keine einheitliche europäische Politik. Am 5. Februar gab Frankreichs Präsident Emanuel Macron seine Bereitschaft bekannt, zwischen dem Iran und den USA zu vermitteln. In den künftigen Verhandlungen sollten allerdings Israel und Saudi-Arabien auch beteiligt sein, so Macron. Doch der Iran lehnt dies ab.
Heiko Maas, der deutsche Aussenminister, verlangt, man müsse über die Raketen der Revolutionsgarde ebenso reden wie über Irans Rolle in den Nachbarstaaten.
Und die Vereinigten Staaten lehnen eine europäische Vermittlung ab. Jedenfalls jetzt.
Zwei Tage nach Zarifs Hilferuf sagte Ned Price, der neue Sprecher des US-Aussenministeriums, der Iran müsse erst seine Verpflichtungen aus dem Abkommen wieder vollständig einhalten, dann könne man sehen, was zu machen sei. Die Europäer würden ebenso konsultiert wie die Partner in der Region oder der Kongress in Washington, fügte Price hinzu.
Das neue Zeitalter der US-Verbündeten
Was die US-Verbündeten in der Region angeht, befinden wir uns in einem neuen Zeitalter. Ein Zeitalter, in dem Araber und Israelis gemeinsam auftreten, um nicht nur die US-amerikanische Öffentlichkeit zu beeinflussen, sondern auch der neuen Regierung der USA praktische Vorschläge zu unterbreiten.
Amos Yadlin, der Exekutivdirektor des Institute for National Security Studies in Israel und ehemalige Chef des israelischen Militärgeheimdiensts, und Ebtesam Al-Ketbi, die Präsidentin des Emirates Policy Centers in den Vereinigten Arabischen Emiraten, schrieben Ende Januar gemeinsam in einem langen Beitrag für Foreign Affairs, eine Rückkehr der USA zum ursprünglichen Atomabkommen mit dem Iran wäre ein grosser strategischer Fehler. „Ein besserer Ansatz wäre, eine bescheidene Interimsvereinbarung oder ein ‚Minus-Abkommen‘ mit dem Iran zu erzielen, um dann Gespräche für ein restriktiveres Nuklearabkommen, ein ‚Plus-Abkommen‘, zu führen.“ Wenn die Biden-Regierung jedoch weiterhin entschlossen sei, das vorherige Abkommen wiederzubeleben, sollte sie zusätzliche Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass Teheran keine Atomwaffen erwirbt – und um den US-Verbündeten in der Region zu versichern, dass Washington nicht mit ihrer Sicherheit spielen wird.
All das muss neu verhandelt werden, aber mit wem, wann und worüber genau? Mit anderen Worten: Das alte Abkommen ist tot, es lebe ein neues Abkommen.
Ob Khamenei das akzeptieren wird? Und wenn ja, wann? Und wer sitzt dann für den Iran am Verhandlungstisch? Wahrscheinlich weiss Khamenei das selbst nicht.
Mit freundlicher Genehmigung von Iran Journal