Alle im Ort nannten ihn den Chiesruedi. Der so hiess, war ein älterer Mann mit leichter geistiger Behinderung. Eine Baracke bei der nahen aufgelassenen Kiesgrube war sein Zuhause. Chiesruedi sammelte mit seinem Leiterwagen Altstoffe, erledigte hier und dort kleine Arbeiten. Dank seines heiteren Gemüts war er gern gesehen, und er konnte auf seine Fasson leben, weil er im Ort Unterstützerinnen und Betreuer hatte.
Der Chiesruedi war für alle, auch für behütete Kinder wie mich, der lebende Beweis, dass nicht alle Menschen ins gesellschaftliche Schema passen – und dass sie trotzdem dazugehören. Heutige Kinder (und Erwachsene) machen diese Erfahrung kaum mehr. Wer in unserer hochgetunten Leistungsgesellschaft nicht mithält, wird wegadministriert.
Früher war es nicht ungewöhnlich, dass Firmen einzelne weniger leistungsfähige Menschen beschäftigten. Sie waren Boten, Hilfsabwarte, Putzleute, Büro- oder Küchenhilfen. Diese Art Personal will man sich heute nicht mehr leisten. Um Kosten zu sparen, lagert man die Arbeiten aus oder steigert die Anforderungen. Da kann man angeblich nichts machen, wirtschaftliche Sachzwänge halt.
Unmenschlich behandelt werden die Ausgegrenzten nicht. Es sind Profis und Einrichtungen für sie da, der fürsorgliche Staat fängt sie auf. Den Preis zahlt die Gesellschaft zum einen mit wachsenden Sozialausgaben. Sie sind verkraftbar. Schwerer wiegt eine andere Folge: Die Chiesruedis sind aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwunden. Volle Leistungsfähigkeit wird so erst recht zur unumstösslichen Norm. Und das ist für alle ungut, nicht nur für die Angeschlagenen.