In beiden Artikeln geht es um den Begriff des Kapitalismus, respektive um mögliche Strategien zu dessen Überwindung. Hans-Jürg Fehr bezeichnet die vieldiskutierte Formulierung von der „Überwindung des Kapitalismus“ im neuen SP-Parteiprogramm als eine „Floskel“. Doch wenn das nur eine Floskel sein soll – ist sie dann gar nicht ernst gemeint? Er selber scheint dieser Meinung zuzuneigen, denn er bekennt, dass er von der Aufnahme dieser Formulierung abgeraten habe.
Seine Partei, fährt der Autor fort, verlange „Wirtschaftsdemokratie statt Kapitalismus“, denn in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sage stets das Kapital „wo es lang geht und nicht die Arbeitenden“. Aber wie ist das bei demokratischen Volks- oder Parlamentsabstimmungen? Sagt da nicht die Mehrheit der Stimmenden oder des vom Volk gewählten Parlaments, wo’s langgeht? Zum Beispiel bei der sozialdemokratischen Initiative „Für gerechte Steuern“, über die am Wochenende abgestimmt wird. Oder bei der von vielen linken und manchen liberalen Köpfen beklagten Abschaffung der Erbschaftssteuer im Kanton Zürich – auch das war ein demokratischer Volksentscheid, kein kapitalistisches Diktat.
Helmut Schmidt zum Kapitalismus-Begriff
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt äussert sich in einem langen Gespräch mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern („Unser Jahrhundert. Ein Gespräch.“ C.H. Beck, München 2010) ebenfalls kritisch zur undifferenzierten Verwendung des Schlagworts „Kapitalismus“. Ich zitiere: „Das Wort Kapitalismus stammt ja von Karl Marx, es ist ein marxistischer Begriff und hat von vornherein für viele Menschen einen ausgesprochen negativen Klang... Aber die Benutzung des Wortes Kapitalismus durch einen Deutschen kann zu Irrtümern führen. Das deutsche Wirtschaftssystem ist kein kapitalistisches, sondern es ist zum grossen Teil Wohlfahrtsstaat. Von hundert lebenden Deutschen sind 25 staatliche Rentner, und die andern finanzieren diese 25, zum Teil durch das kapitalistische System, durch die Benutzung einer Marktwirtschaft,...zum grösseren Teil finanziert durch die Arbeitnehmer dieser Marktwirtschaft. Wir haben den marktwirtschaftlichen und wir haben den sozialstaatlichen Sektor. Und dazwischen haben wir einen öffentlichen Sektor.“
Von solchen Unterscheidungen über die tatsächlich wirtschafts- und sozialpolitischen Verhältnisse etwa in Westeuropa liest man seltsamerweise in den hier zur Debatte stehenden Stellungnahmen kein Wort. Der inhaltlich präzisere und ideologisch weniger aufgeladene Ausdruck „soziale Marktwirtschaft“ kommt nicht vor. Es wird der Eindruck erweckt, als gebe es allein die Alternative „Kapitalismus“ oder „Wirtschaftsdemokratie“ (beide Begriffe werden nicht konkreter definiert). Schmidt – ein bekennender Sozialdemokrat – betont ausdrücklich, dass ein gemischtes Wirtschafts- und Sozialsystem auch für andere europäische Länder wie zum Beispiel die Schweiz gelte.
Wie wird das „Wohnen demokratisiert“?
Der Basler Historiker Hans Schäppi (der das SP-Programm von links angreift) wird im Beitrag von Roman Berger mit der Forderung zitiert, wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Universitäten, Schulen, öffentliche Verwaltung und Wohnen müssten zur Überwindung des Kapitalismus „demokratisiert“ werden. Auch dazu möchte man gerne Genaueres wissen: Werden über neunzig Prozent aller Schulen und Universitäten in der Schweiz nicht hauptsächlich vom Staat finanziert und von demokratisch bestellten Institutionen kontrolliert (gewählte Schulpflegen, Regierungsräte, Kantonsparlamente etc.)? Und wie im Einzelnen soll „das Wohnen demokratisiert“ werden? Sollen staatliche (vielleicht gewählte) Behörden den Bürgern den ihnen zustehenden Wohnraum zuweisen – so etwa nach dem Muster der früheren Sowjetunion, in der eine fürchterliche Wohmisère herrschte?
Der Historiker Schäppi behauptet gemäss Bergers Zusammenfassung weiter, einen Höhepunkt des Demokratiezerfalls habe die Schweiz mit den Rettungsmassnahmen für die UBS erlebt. Diese seien „ohne demokratische Legitimation und ohne Widerstand durchgesetzt“ worden. Über diese Rettungsmassnahmen zugunsten der UBS kann man in guten Treuen sehr unterschiedlicher Meinung sein. Aber gibt es dafür wirklich keine demokratische Legitimation? Warum wird die nachträgliche Zustimmung durch die bürgerliche Parlamentsmehrheit (von der immerhin im Vorwort der Zeitschrift „Widerspruch 58“ die Rede ist) ausgeblendet? Sind parlamentarische Mehrheiten in den Augen Schäppis keine demokratische Legitimation, wenn es sich um bürgerliche Mehrheiten handelt?
Systemwechsel und Demokratie
Schäppi argumentiert weiter, Umweltzerstörungen wie die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko seien „im Rahmen eines kapitalistischen Systems" (zu dem er ja auch unser Land zählt) "nicht lösbar“ oder zu verhindern. Aber wie steht es mit den sauberer gewordenen Schweizer Seen, deren Zustand sich im Vergleich zu den Zuständen vor 30 oder 40 Jahren deutlich verbessert hat? Und schliesslich: In welchem Land mit andern Wirtschaftssystemen werden oder wurden solche Probleme besser gelöst? Etwa in China (das sich immer noch sozialistisch nennt) oder Kuba oder in der ehemaligen DDR oder in der Sowjetunion?
Selbstverständlich sind Forderungen nach politisch-wirtschaftlichen Veränderungen oder gar einem Systemwechsel absolut legitim und in einer lebendigen Demokratie notwendig. Dass Alternativen zum Kapitalismus „in der öffentlichen Debatte tabuisiert“ seien, wie der Zürcher Philosophie-Professor Urs Marti ebenfalls in der Zeitschrift „Widerspruch“ behauptet, kann ich nicht nachvollziehen. Aber wer einen solchen Systemwechsel verlangt, sollte erstens genauer erklären, was im Einzelnen mit Allerweltsschlagwörtern wie „Überwindung des Kapitalismus“ und „Wirtschaftsdemokratie“ gemeint ist. Und vor allem: Mit welchem Mitteln solche Umbrüche durchzusetzen wären. Soll ein Systemwechsel konsequent durch demokratische Mehrheitsentscheidungen (also durch Volksabstimmungen oder die gewählten Parlamente) herbeigeführt werden? Wenn dieses Prinzip nicht in Frage gestellt wird, bin ich beruhigt.