Das Geheimnis ist nicht mehr geheim: Ohne Umschweife gestehen wichtigste Machtorgane in Iran, dass sich die Mehrheit der Jugend von den Idealen der Islamischen Republik abgewendet hat. Der gesamte Staat sieht sich herausgefordert. Sicherheitskräfte feilen an immer besseren Überwachungsmethoden, das Erziehungsministerium will Lehrerinnen aus dem Schulbetrieb entfernen, staatliche Medien sollen sich des Themas offensiv annehmen. Unterschiedlicher könnten die Rezepte für die Heimholung der verlorenen Söhne und Enkel nicht sein.
Die "rosa Erziehung"
Sie nennen es Krankheit, eine rasch grassierende Massenkrankheit. Die aktuellste Begründung für ihre Genese lieferte Anfang März Dr. Bahram Mohammadian, iranischer Vizeminister für Erziehung: „Die rosa Erziehung verdirbt zunehmend unsere heranwachsenden Männer“, so seine Analyse. Weil in den Grundschulen nur wenige Männer als Lehrer tätig seien, fände dort eine „rosa Erziehung“ statt.
Dies führe zur „Verweiblichung“ junger Männer mit all ihren krankhaften Konsequenzen, so der Vizeminister, der auch für die Schulbücher des Landes zuständig ist. Andere mögen über die Ursache des „Übels“ anderer Meinung sein. Doch über Diagnose und Symptome dieser „Epidemie“ herrscht weitgehend Einigkeit. Über die Heilungsmethoden gibt es allerdings heftigen Streit. Es geht um abnorme und auffällige Verhaltensweisen der Mehrheit der Jugendlichen in den iranischen Grossstädten.
Desillusionierte Enkel
Sie nennen sich selbst „verbrannte Generation“, die Soziologen sprechen vom dritten nachrevolutionären Jahrgang, und manche Journalisten haben sie in „desillusionierte Enkel“ umgetauft. Jahrelang war dieses soziale Phänomen ein offenes Geheimnis, über das manche Prediger oder Kulturfunktionäre nur sporadisch philosophierten. Auch die Zeitungen nahmen sich des Themas nur vorsichtig und nur in ihren Kulturteilen an.
Doch diese defensive Haltung ist Vergangenheit, das Blatt hat sich inzwischen völlig gewendet. Seit fast fünf Monaten äussert sich zum „Krankheitsbild“ jeder, der sich für Kultur, Medien, Erziehung, Jugend und natürlich für den Glauben zuständig fühlt.
Der Tod des Popsängers
Pashaies Beisetzung musste wegen des unerwarteten Menschenandrangs um mehrere Stunden verschoben werden. Die Wende kam am 14. November 2014. An diesem Sonntagnachmittag verbreitete sich über die sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer die Todesnachricht des Popsängers Morteza Paschaie. Der dreissigjährige Musiker war tatsächlich ein „Enkel der Revolution“ - und bis zu diesem bemerkenswerten Tag der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Nicht einmal die Szeneexperten hatten ihn auf dem Schirm. Erst nach seinem Tod erfuhr man, was er in seiner 13-jährigen Karriere erreicht hatte.
Nichts Sensationelles: Zwei Alben durfte er veröffentlichen, der offizielle Hörfunk strahlte einige Male einen Songtitel von ihm aus, und die wenigen Konzerte, die er geben durfte, waren gut besucht. Er war also ein geduldeter Untergrundkünstler, der seinen eigenen Weg ging, kein Protestsänger und damit keine politische Gefahr, ein Individualist, ein Desillusionierter mit angenehm trauriger Stimme, ohne jegliche Ambition.
Nach seinem Tod sprach man von zwei Songs, für die er keine Genehmigung bekommen hätte. Von seiner Krebskrankheit wussten nur seine treuesten Anhänger. Doch als er zehn Tage vor seinem Tod ins Krankenhaus eingeliefert wurde, geschah das Unglaubliche. Innerhalb weniger Stunden belagerten Tausende weinende Fans jeden Alters und Geschlechts das Hospital im Norden Teherans, die weit grössere Überraschung stand noch bevor. Als sich die Meldung seines Todes über Facebook, Twitter und Viber verbreitete, strömten Hunderttausende zum grossen Teil schwarzgekleidete Frauen und Männer ins Zentrum Teherans. So eine Menschenmenge hatte man in der Hauptstadt seit 2009, seit der umstrittenen Wahl von Ahmadinedjad, nicht mehr gesehen. Auch in anderen Grossstädten des Landes wie Isfahan und Shiraz sammelten sich Anhänger und stimmten seine Songs an.
Offensive nach offenem Geständnis
„Unter der Haut unserer Gesellschaft geschieht etwas, von dem wir wenig wissen“, antwortete Innenminister Rahmani Fazli, als er am nächsten Tag nach der ungewöhnlichen Trauerversammlung gefragt wurde. Fazli kündigte zugleich an, sein Stellvertreter für soziale Fragen werde sofort eine Feldforschung in Auftrag geben. Als ob alle auf ein Startzeichen gewartet hätten, sind seit jenem bemerkenswerten Trauermarsch zahlreiche Studien, Expertisen und Leitartikel zum Thema „Enkel der Revolution“, deren Pessimismus und veränderten Rollenbildern erschienen.
Auch die oppositionellen Blätter im In- und Ausland sahen sich gezwungen, den unpolitischen Trauermarsch zu kommentieren. In den zahlreichen Talkshows der persischsprachigen BBC und Voice of Amerika versuchte jeder Diskutant, sich darauf seinen Reim zu machen. In Isfahan beschreibt ein Forscherteam schon im Vorwort seiner jüngsten Untersuchung den beispiellosen Generationenkonflikt so: Der Grossvater, idealistisch und revolutionär, stürzte eine Jahrtausende alte Ordnung um, der Vater versuchte nach achtjährigem Krieg gegen den Irak beim Wiederaufbau reich zu werden, und der Enkel, geboren nach dem Krieg, sei weder revolutionär noch sehe er eine Chance, je einen Job zu finden, geschweige denn reich zu werden. Die Jugendarbeitslosigkeit in Iran hat die 50-Prozent-Grenze längst überschritten.
Das Internet als Kampfgebiet
Doch diese Enkel verfügen heute über etwas, wovon ihre Vorfahren nur träumen konnten: das Internet. Ernüchtert und enttäuscht wachsen sie in dessen sozialen Netzwerken auf, sind besser informiert als ihre Eltern und Grosseltern, suchen sich in der globalisierten und virtuellen Welt ihre Idole und deshalb erscheinen sie den anderen als auffällig.
Diese tiefgreifende Entwicklung vollzieht sich zugleich in einem internetverrückten Land. Im gesamten Nahen Osten gibt es, mit Ausnahme Israels, kein Land mit ähnlicher Begeisterung für die virtuelle Welt wie Iran. Facebook ist offiziell verboten, doch niemand kümmert sich darum. Allein Viber werde von zehn Millionen Iranern benutzt, gab der Minister für islamische Kultur und Führung, Ali Jannati, Anfang Februar bekannt.
Die überwachende "Spinne"
Die rasante Verbreitung und Nutzung diverser Kommunikationsmöglichkeiten bleibt für die Hardliner eine harte Nuss, ein Katz- und Mausspiel ohne Ende. Die Revolutionsgarden haben ihre Cyberarmee und die Jugendlichen die neueste Version eines Antifilterprogramms. In regelmässigen Abständen demonstrieren die Garden, wie mächtig und effizient sie im Internet agieren. Anfang März teilten sie mit, sie hätten gerade ein Programm namens „Spinne“ entwickelt, mit dem sich alles, was sich auf Facebook abspiele, kontrollieren lasse.
Damit würden die „organisierten Aktivitäten“ auf Facebook ebenso überwacht wie „unmoralische Inhalte“. Niemand solle sich in Sicherheit wiegen. Die „Spinne“ habe bereits Informationen über „acht Millionen Likes“ von Facebooknutzern gesammelt, ähnliche Überwachungsprojekte seien für andere soziale Netzwerke wie Instagram, Viber und WhatsApp geplant, so die Warnung der omnipotenten Revolutionsgarden.
Doch die aufmüpfigen Enkel müssen nicht unbedingt internetaffin oder PopsängerInnen sein. Auch mit Kleidung, Frisur oder einem Pflaster auf der Nase als Zeichen der gerade erfolgten Schönheitsoperation lässt sich das Anderssein bestens demonstrieren. In Iran werden weltweit die meisten Nasenoperationen durchgeführt, die USA ausgenommen, Die letzte Schrei: „Ohrenkorrektur“ oder wie es im Volksmund heisst„Eselsohr“.