„Die industrielle Zivilisation hat die lebenserhaltenden Systeme der Erde in die grösste Krise seit 65 Millionen Jahren gestürzt: Klimachaos und Artensterben bedrohen die Zukunft der Menschheit. Grund dafür ist ein über Jahrhunderte gewachsenes technokratisches Weltbild, das die Natur zu einer beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert.“ Mit solch argumentativer Wucht beginnt Fabian Scheidlers neues Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“.
Nahtlos knüpft der Autor mit dieser apokalyptischen Darstellung an sein letztes Werk an: „Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen“. Den (vermeintlichen) Sieg des Menschen über die Natur beschreibt der Autor als Pyrrhussieg, denn die totale Kontrolle über die Natur führe „geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust“. Die Menschheit spreche noch immer selbstverständlich so, als wäre die Natur etwas, das unabhängig „von uns da draussen existiere, eine Umwelt, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehörten“.
Dabei, schreibt der Autor, sei die Vorstellung „wir hier – da draussen die Umwelt“ eine Illusion. „Durch Atmung und Stoffwechsel werden alle zwei Monate sämtliche Atome meiner Leber ausgetauscht, alle sechs Wochen die meiner Haut.“ Was eben noch „draussen“ gewesen sei, sei im nächsten Moment ein „Teil von mir“. Was der Mensch dem Stoff „da draussen“ antue, tue er letztlich sich selber an. Covid-19 zeige anschaulich, dass ein Grossteil der Erreger, die unsere Atemwege befielen, von wilden Tieren stamme, deren Habitate der Mensch zerstört habe.
Verbunden in einem grossen Gewebe
Viele von diesen Thesen hat der Autor bereits in seinem letzten Buch beschrieben. Neu ist jetzt, dass Fabian Scheidler einen Bogen von den kleinsten Teilen praktisch bis ins Universum spannt. Die Vorstellung von der Welt als Legobausatz „mit sehr kleinen, fein säuberlich getrennten Bausteinen, aus denen sich alles zusammensetzen lässt“ sei „vollkommen falsch“. Seit der Relativitätstheorie und der Quantenphysik habe man erkennen müssen, dass im Inneren der Materie nichts Festes, Greifbares existiere, sondern nur schwingende Felder von Energie, die im Prinzip das ganze Universum durchzögen. „Die scheinbar getrennten Dinge und Wesen sind tatsächlich in einem grossen Gewebe miteinander verbunden.“
So ist, folgt man dem Autor, alles mit allem verbunden, die Umwelt ist nicht die Umwelt, sondern das sind wir selber. Zerstören wir die Umwelt, zerstören wir uns, unsere Zivilisation. Ob der Planet langfristig in dieser Form überleben wird, ist nicht absehbar.
Der Autor fügt Erkenntnisse aus Physik, Biologie, Chemie zusammen, er spannt den Bogen von Isaac Newton über Galileo Galilei bis zu Albert Einstein, Werner Heisenberg, Max Planck und vielen anderen. So entsteht ein Kosmos an Wissen und Erkenntnis, von dem hier nur einige wenige Bausteine wiedergegeben sollen.
Scheidler schreibt: „Statt uns eine tote Welt isolierter Objekte zu offenbaren, haben sie (die Forschungen, Anm. d. Aut.) nämlich etwas ganz anderes zutage gefördert: ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht. Weder sind wir isolierte Inseln des Empfindens und Denkens in einer tauben, sinnlosen Umwelt noch biologische Roboter, sondern Teil eines alles verbindenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht (…). Diese neue Sicht wird von grosser Tragweite dafür sein, wie wir mit der planetaren Krise umgehen, in die uns eine jahrhundertelange Ausbeutung der Natur einschliesslich des Menschen gesteuert hat (…).“
Und an anderer Stelle: Die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit habe auch zur Folge, dass von der Erde prinzipiell nur ein Teil des Universums beobachtet werden könne. „Dieses beobachtbare Universum enthält nach gegenwärtigem Wissensstand mindestens 2000 Milliarden Galaxien. Über die Grösse des Gesamtuniversums ist nichts bekannt.“
Ein Kosmos von handelnden Akteuren
Insgesamt, schreibt der Autor, habe sich der Planet langsam, über Jahrmillionen oder gar Jahrmilliarden entwickelt, dann aber habe es, wie Konrad Lorenz festgestellt habe, Fulgurationen (von lateinisch Fulgor, Blitz) gegeben, in denen „Entwicklung“ vergleichsweise schnell vorangegangen sei. Dazu gehöre die Entstehung des Lebens. Die derzeit gültige Theorie sei jene, dass vor etwa vier Milliarden Jahren im Ur-Ozean aus einfachen Atomen und Molekülen durch die hohe Energie von Blitzen und Unterwasservulkanen die ersten Aminosäuren und Nukleotide gebildet worden seien. Von dieser chemischen Selbstorganisation zu einer lebenden Zelle sei es aber noch ein langer Weg gewesen; eine anerkannte Theorie, wie es dazu gekommen sei, gebe es bis dato nicht.
Als es nur bakterienlose Einzeller, Achaeen genannt, und Bakterien gegeben habe, hätten einige die Fähigkeit zur Photosynthese erworben und Sauerstoff freigesetzt. „Die Folge war ein dramatischer Umbau der Erdatmosphäre und des Lebens, den man als „Grosse Sauerstoffkatastrophe bezeichnet“.
Und schliesslich: Könnte man sich so klein machen, schreibt Fabian Scheidler, dass wir eine Zelle von innen betrachten könnten, würde man nicht weniger als „zehn Billionen (zehntausend Milliarden) Moleküle, viele von ihnen Riesenmoleküle“ sehen, die „ihrerseits aus Zehntausenden von Atomen bestehen“.
Was uns hier begegnen würde, schreibt der Autor, wäre keine Welt von toten chemischen Gegenständen, „sondern ein Kosmos von handelnden Akteuren, die alle genau zu wissen scheinen, was zu tun ist und in extrem komplexer Weise zusammenarbeiten“. Der Biologe Denis Noble habe errechnet, dass man, um mit Computern die molekularen Vorgänge zu simulieren, die sich in auch nur einer Zelle abspielen, 10 hoch 27 Superrechner benötigte. Zur Herstellung dieser Maschinen bräuchte man mehr Materie, als das gesamte Sonnensystem bieten könne, zitiert Fabian Scheidler den Biologen Noble.
Fatale grosse Trennung
Warum, könnte man fragen, verknüpft Fabian Scheidler zwei Milliarden Galaxien, komplexe Zellvorgänge und die komplizierte Entstehung des Lebens mit den „Umwelt“-Problemen von heute? Die Antwort sieht der Autor in der „grossen Trennung“: der Trennung, simpel gesagt, des Menschen von der Natur. Das herrschende technokratische Weltbild, habe die Natur zur menschlichen Ausbeutung freigegeben. „Wir sind Teil eines über Jahrmillionen und Jahrmilliarden entstandenen hochkomplexen Netzwerks von Kreislaufprozessen. Schon geringe Störungen darin können für uns gravierende Konsequenzen haben.“
Und die Störungen sind vielfältiger Art, Der Hauptgrund für die Krise des Lebens auf der Erde sei die Ausbreitung eines Wirtschaftssystems, das ohne permanentes Wachstum nicht existieren könne. 400 Jahre nach Gründung der ersten Aktiengesellschaft werde der Planet heute von einigen hundert bürokratischen Monstern beherrscht und ausgebeutet, deren einziger Zweck die endlose Vermehrung von Geld sei, „koste es, was es wolle“.
Grössen der Renaissance wie etwa Leonardo da Vinci hätten auch stets ihr Wissen dazu verwendet, z. B. Kriegsgeräte zu bauen. Zudem sei es keine Seltenheit gewesen, dass Wissenschaftler an der kapitalistischen Eroberung der Welt beteiligt gewesen seien. „Viele der führenden Köpfe der frühneuzeitlichen Wissenschaft“, schreibt Fabian Scheidler, „darunter Francis Bacon, Robert Boyle, Christian Huygens, John Locke, Isaac Newton, waren Anteilseigner, Mitarbeiter oder sogar Direktoriumsmitglieder der grossen Aktiengesellschaften, die gewaltsam die Kolonisierung Nordamerikas, Asiens und Afrikas vorantrieben.“
Und die Frage nach Gott, die Frage nach der Rolle der Kirchen? Die Amtskirchen hätten, schreibt der Autor „über Jahrhunderte einen ideologischen Rahmen für Ausbeutung, Unterdrückung und Kolonialherrschaft“ geliefert. Die Frage nach Gott bewege sich dagegen auf einer völlig anderen Ebene. „Menschen brauchen in der Tat Kosmologien“, schreibt der Autor, „die über die blosse Sammlung von Fakten und Gleichungen hinausgehen, aber das hat mit der Behauptung eines persönlichen, transzendenten und allmächtigen Gottes überhaupt nichts zu tun. Es gibt unzählige Beispiele für Kosmologien, die ohne einen solchen Gott auskommen, die aber trotzdem oft genug als religiös bezeichnet werden.“
Jede Minderung der Erwärmung zählt
Bleibt letztlich die Frage, ob die Welt, so wie wir sie kennen, eigentlich noch zu retten ist, oder, mit Fabian Scheidler gesprochen, ob die „Megamaschine“ des Wachstums, der Ausbeutung der Natur, der ungebremsten Profitvermehrung, „die Umwandlung einer lebenden Mitwelt in tote Waren und die damit einhergehende Verwüstung der Biosphäre“ noch aufzuhalten ist. Der Autor bleibt skeptisch. „Das gegenwärtige System hat über die vergangenen Jahrhunderte Tod und unermessliches Leid für Hunderte Millionen Menschen gebracht; für die kolonisierten Völker Asiens und Afrikas, der Amerikas ist die Welt in vielerlei Hinsicht bereits untergegangen, ebenso für die Opfer der grossen Kriege und Genozide in Europa“, schreibt der Autor.
In diesem Jahrhundert werde die Megamaschine wahrscheinlich weiter massenhaft Leiden erzeugen. „Doch es macht einen entscheidenden Unterschied, wie viele Menschen genau dabei sterben werden und welche Art von Existenz die Überlebenden dann führen. Für grosse Teile der Weltbevölkerung ist es eine Frage von Leben und Tod, ob wir uns auf eine durchschnittliche Erderwärmung von drei, vier oder fünf Grad zubewegen. Jedes Zehntel Grad Erwärmung, das verhindert werden kann, rettet unzählige Leben. Und für jedes einzelne lohnt sich der Einsatz.“
Fabian Scheider: Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen, Piper Verlag 2021
Siehe auch:
- Fabian Scheidler: Die grosse Trennung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/21, Berlin 2021
- Carina Seeburg: Je weniger Arbeit, desto besser. In: Süddeutsche Zeitung vom 3./4. April 2021 (über den heute von manchen Forschern als problematisch gesehenen Sprung der Menschheit vom Nomadentum zum sesshaften Bauern)
- Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit (mit der These, die Geschichte vom Fortschritt der Menschheit sei ein Ammenmärchen)