Der neue iranische Präsident ist mit einer Vielzahl irdischer Probleme konfrontiert: die grassierende Corona-Epidemie, landesweite Wasserknappheit und internationale Isolation. Sein eigentlicher Auftrag aber lautet: Er soll das Land für eine universelle islamische Zivilisation vorbereiten.
Geschichte ist Datum: Besetzt man es, besitzt man die Geschichte. Das ist das Geschichtsverständnis der Islamischen Republik seit ihrem Bestehen. Der 5. August ist nach iranischem Kalender der 14. Mordad: ein besonderer Tag für alle Iraner, einerlei, welcher politischen Richtung, Religion oder Ethnie sie auch angehören mögen. Es ist der Tag der konstitutionellen Revolution vor 115 Jahren – der Tag, an dem sich die Iraner eine neue Verfassung gaben und in die Moderne einzutreten versuchten.
Diese Verfassung beschränkte die Macht des Königs, führte die Gewaltenteilung ein und erkannte jeden Iraner als Bürger an. Später berief sich jeder, Königstreuer oder -gegner, auf diese Verfassung, wenn er irgend etwas Politisches äussern wollte. Bis zur islamischen Revolution vor 42 Jahren war der Tag ein nationaler Feiertag.
Doch Ajatollah Ruhollah Chomeini, der Gründer der neuen Ordnung, machte aus seiner Verachtung für diese relativ moderne Verfassung nie einen Hehl. Unmittelbar nach seiner triumphalen Rückkehr aus dem Exil liess er eine der grossen Hauptstrassen Teherans nach Ajatollah Nuri benennen, jenem Geistlichen, der wie Chomeini selbst gegen die Verfassung und für einen Gottesstaat war. Ajatollah Nuri war wegen seiner Aktivitäten gegen diese Verfassung hingerichtet worden. Die Fatwa zu seiner Hinrichtung hatten zwei andere Grossajatollahs erlassen.
So gesehen sei die islamische Revolution auch eine Rache an der konstitutionellen Revolution, meinen namhafte Historiker.
Es würde weit führen, wollte man alles aufzählen, was die neuen Machthaber unternahmen, um diesen Tag mit ihren Symbolen zu besetzen und ihm ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Auch die Zeremonie zur Amtseinführung des neuen Präsidenten der islamischen Republik findet am 14. Mordad statt.
Radikale unter sich
Doch das diesjährige Ritual ist einmalig. Der Teheraner Luftraum bleibt an diesem Donnerstagnachmittag gesperrt. Früher waren die Flughäfen gerade an diesem Tag emsig damit beschäftigt, die Einreise ausländischer Politiker und Journalisten abzuwickeln, die in Teheran eintrafen. Noch weiss man nicht, ob, und wenn ja, welcher Präsident oder Regierungschef in diesem Jahr dabei sein möchte. Denn die Anreise zur Amtseinführung eines Präsidenten, den viele „Massenmord-Ayatollah“ nennen, ist eine mehr als heikle Angelegenheit.
Es werden sich trotzdem ausländische Politiker, Journalisten und sonstige Gäste finden, die an dieser Veranstaltung teilnehmen. Wer sie sein werden und wie sie nach Teheran gelangen, ist ungewiss. Ganze elf Parlamentskommissionen sind jedenfalls mit der Vorbereitung der Zeremonie beauftragt.
Vielleicht ist eine Begebenheit dieses Tages aus der Zeit von Ex-Präsident Mahmud Ahmadinejad interessant. Er hatte gehört, dass der Präsident der Komoren ein Schiit sei und bei seiner Amtseinführung anwesend sein möchte, aber kein Flugzeug habe. Ahmadinejad schickte eine Maschine vom Typ Falcon und liess den Gast abholen.
Die Pandemie und die Ausweglosigkeit
Die Umstände dieses Tages in Teheran sprechen Bände über den Zustand des gesamten Landes. Es wird ein Präsident inthronisiert, der für einen grossen Teil der Iraner wegen seiner Mitwirkung an Massenhinrichtungen der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schlicht ein Mörder ist.
Konfrontiert ist der neue Präsident aber nicht mit der Geschichte, sondern mit einer harten Gegenwart. Das Land steckt mitten in der fünften Welle der Coronapandemie – und weniger als drei Prozent der Iraner sind vollständig geimpft. In Teheran mit seinen etwa 12 Millionen Einwohnern gibt es kein leeres Bett in den Krankenhäusern mehr. Offiziell gibt es täglich etwa 300 Tote und um die 20’000 Neuinfizierte, doch die amtliche Statistik im Iran war, ist und bleibt immer Politik.
Es sei ein Verbrechen, wie die Machthaber in Teheran mit der Pandemie umgingen, sagen anerkannte Virologen. Erst habe man die Krankheit negiert, und als es so nicht weiterging, konnte man nicht ausreichend Impfstoff bestellen, weil Revolutionsführer Ali Khamenei den Kauf der Vakzine aus Grossbritannien und den USA verboten hatte.
Das Land ist durstig
Zur Coronakatastrophe gesellt sich unterdessen eine Wasserknappheit, die das ganz Land seit Wochen in den Protestmodus versetzt. In dreihundert Städten sei das Wasser rationiert, 8.000 Dörfer würden mit Tankwagen versorgt, sagt Alireza Janbaz, Leiter der Wasserversorgung des Landes.
Brisant, ja explosiv ist die Lage in der Provinz Khuzestan, an der Grenze zum Irak, wo tagsüber das Thermometer auf bis zu 50 Grad steigt. Seit drei Wochen kommt es allabendlich zu Protesten gegen die daraus resultierende Wasser- und Stromknappheit. Inzwischen ist Khuzestan praktisch von der Aussenwelt abgeriegelt, das Internet wurde abgeschaltet, Sondereinheiten der Polizei und die Revolutionsgarden haben dort das Regiment. Fast das gesamte Erdöl des Iran liegt unter der Erde Khuzestans.
Der Karun, wichtigster Fluss der Region und wasserreichster des ganzen Landes, der einst der Trinkwassergewinnung und der Bewässerung der Felder und Plantagen diente, ist durch mehrere Talsperren aufgestaut. Einen guten Teil des Wassers leiten die Revolutionsgarden für Industrieprojekte in den Norden weiter.
Nichts deutet darauf hin, dass Ibrahim Raissi für diese existenziellen Probleme des Landes eine Lösung hat.
Universelle islamische Zivilisation
Doch der neue Präsident tritt nicht an, um nur solche irdischen Fragen zu lösen. Er hat eine wichtigere Mission. Er solle das Land für eine universelle islamische Zivilisation vorbereiten, sagt Revolutionsführer Ali Khamenei. Angesichts dieses himmlischen Ziels sind Wirtschaft und Corona, Wasserknappheit oder Stromausfälle banale Angelegenheiten.
Am vergangenen Mittwoch setzte das Parlament das Gesetz zur „Nationalisierung des Internets“ in Kraft, um alle westlichen Apps zu verbannen.Tags darauf registrierte Google eine 700-prozentige Steigerung der Internetsuche mit dem Stichwort Emigration.
Die Signale sind eindeutig. Alle sollen begreifen, dass wir an diesem Donnerstag die Schwelle eines neuen Zeitalters erreichen. An diesem Tag beginne die reine Herrschaft des Islam, um eine islamische Zivilisation aufzubauen, sagt Ali Amir Hajizadeh, der Luft- und Raumkommandeur der Revolutionsgarden.
Dass ein Luftwaffenkommandeur mit dem neuen Präsidenten eine islamische Zivilisation errichten möchte, zeugt zwar von seinem universellen Anspruch, doch im Inneren hat Raissi eine andere, sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen. Die Islamische Republik bereitet sich längst auf die Post-Khamenei-Ära vor, und der neue Präsident soll diesen existenziellen Übergang managen. Ein Manager war Raissi jedoch nie: Er war stets ein Richter, der die politischen Entscheidungen anderer exekutierte.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal