Eine solche Frage ist heikel. Denn sie kann auf den Fragesteller zurückfallen: Schon wieder die Pointe nicht begriffen, schon wieder die hohe Kunst nicht erkannt, weil die Besonderheit der Perspektive in der Abbildung des Banalen - das es ja sowieso nicht mehr gibt - übersehen wurde. Niemand mag zugeben, dass er unempfänglich für Werte ist, die doch von Experten als Nonplusultra beglaubigt sind.
Markierung der Beachtlichkeit
Diese Bemerkungen sollen die Sammlung des Fotomuseums Winterthur in keiner Weise herabsetzen. Vielmehr geht es um ein hochinteressantes Problem, das mit jeder Sammlung dieser Art als verschämter Begleiter mitläuft: Was muss geschehen, damit aus der Masse der Bilder ein Bild oder ein Fotograf – Fotografinnen sind in dieser Formulierung natürlich ebenso eingeschlossen wie alle Betrachterinnen – die entscheidende Markierung bekommt, beachtenswert zu sein?
Wer oder was ist „beachtlich“? Manchmal ist die Beachtlichkeit evident. Da transportiert ein Foto eine Stimmung, eine Situation oder es hat eine so stimmige Komposition, dass die Beachtlichkeit nicht erklärt werden muss. Aber in den meisten Fällen ist es anders: Da braucht es Namen – des Fotografen, der Sammler oder der Museen und Agenten – um aus einem Foto ein beachtenswertes Kunstwerk zu machen.
Seit 1993 sammelt das Fotomuseum Bilder und hat sich auch aus pekuniären Gründen auf die Zeit ab 1960 fokussiert. Die Bilder vor dieser Zeit wurden bereits so stark nachgefragt, dass ihre Anschaffung das Budget gesprengt hätte. Diese Beschränkung hat den grossen Vorteil, dass sie das Profil der Sammlung schärft. Übrigens bietet das Fotomuseum auf seiner Website die Möglichkeit, nahezu alle Bilder der Sammlung zu betrachten.
Aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums wurde jetzt das „Set 10“ der Sammlung zusammengestellt. Für diese Aufgabe hat der Direktor Urs Stahel den renommierten Fotografen Paul Graham als Gastkurator gewonnen. Der begleitende kleine Katalog bietet leider nicht alle der ausgestellten Bilder. Dafür aber enthält er ein Gespräch, das Urs Stahel mit Paul Graham geführt hat. In diesem Gespräch geht es unter anderem um die Kriterien der Auswahl von Bildern – schon bei der Aufnahme: Nach welchen Kriterien wählt der Fotograf Motive, Bildausschnitte, Perspektiven?
„The Medium is the Message.“
Im Gegensatz zu Malern oder Schriftstellern, die immer vor einer leeren Fläche sitzen und diese von sich aus füllen müssen, habe es der Fotograf, so Paul Graham, mit einer unendlichen Zahl von bereits vorhandenen „bedeutsamen Momenten, Objekten, Menschen, Landschaften, Himmeln, Licht“ zu tun. Die Frage aber, wodurch die Dinge Bedeutsamkeit erlangen, stellt sich ihm offenbar nicht. Er fotografiert. Stahel spricht davon, dass Fotografie „erzähle“, Graham wiederum meint, dass damit die Arbeiten gerade der aktuellen Fotografen unzureichend gekennzeichnet werden. Er selber und seine Generation konzentrierten sich auf Fotobücher, die irgendwie ein eigenes Genre bildeten. "Die Buchform zwingt mich, die Bilder aneinanderzureihen." Wenigstens das.
Dann fragt Stahel nach der Bedeutung der digitalen Fotografie. Graham sieht darin keinen qualitativen Unterschied zur bisherigen Fotografie, meint aber, dass das Internet nun „riesige fotografische Ressourcen“ bereit halte und zudem ganz neue Möglichkeiten der Präsentation biete. Dass sich dadurch die Fotografie selbst – Stahel betont immer wieder, dass 99 Prozent der Bilder heute nur als digitale Dateien bestehen und nie gedruckt werden – enorm verändert, scheint für Graham kein so grosses Problem in unserer „infinite world“ zu sein. Was aber hatte Marshall McLuhan gelehrt? „The Medium is the Message.“
Entsprechend müsste sehr kritisch gefragt werden, welche Botschaft sich hinter der digitalen Leichtigkeit der Fotografie verbirgt. Wird unsere Urteilsfähigkeit durch die schiere Masse und ihrer Beliebigkeit erschlagen? Was geschieht in der Auseinandersetzung mit Bildern? Es geht doch immer auch darum, die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen und zu erproben. Zu unterscheiden zwischen dem Wichtigen und dem Belanglosen, dem Gelungenen und dem Beliebigen. Wenn die Bilderflut nur noch strömt und keiner mehr da ist, der darin Unterschiede erkennen kann, wird sie zum Bestandteil einer Welt, in der das urteilende Subjekt sowieso nur noch ein Störenfried ist.
Das Gute an der Sammlung und der jetzigen Ausstellung liegt darin, genau diese Fragen zu provozieren. Die Betrachter sollten sich Zeit nehmen, um die Bilder auf sich wirken zu lassen, meint Urs Stahel. Nur so, liesse sich ergänzen, können in der Begegnung mit den Fotos aus dem Inneren der Betrachter Antworten erwachsen.
Fotomuseum Winterthur, Grüzzenstrasse 44 + 45, 8400 Winterthur, bis 09. Februar 2014