Tja, so geht’s manchmal … ihre Lieblingsrolle ist es nämlich nicht gerade, aber es ist die Rolle, die sie momentan sozusagen am Fliessband spielt: die Renata in Prokofjews Oper „Der feurige Engel“. Diesmal im Opernhaus Zürich.
Besessenheit und Teufelsaustreibung
Ausrine Stundyte kommt gerade aus der Probe, sie sei etwas müde, sagt sie, aber man sieht es ihr nicht an. Schwarze, kurzgeschnittene Haare, ein offenes Gesicht und strahlend hellblaue Augen. An ihr vorbeischauen geht nicht. Sie zieht die Aufmerksamkeit sofort auf sich.
„Der feurige Engel“ ist ein eher unbekanntes Werk, das aber in letzter Zeit zunehmend gezeigt wird. Prokofjew hat es vor knapp hundert Jahren zu einer Zeit komponiert, als die Psychoanalyse an Bedeutung gewann. Aufgeführt wurde es zu Prokofievs Lebzeiten allerdings nie. Es geht um Besessenheit und Teufelsaustreibung, um Wahn und Wirklichkeit, um Liebe und Verlassenwerden. Angesiedelt im Mittelalter, aber mit Gültigkeit ohne Ablaufdatum.
Nochmal tief Luft holen, ein Schluck Wasser, dann erzählt sie. Dreimal Renata: vor einem Jahr an der Oper in Lyon, dann Anfang dieses Jahres in München, jetzt in Zürich. Jedes Mal eine andere Inszenierung, jedes Mal ein neuer Regisseur, jedes Mal eine neue Interpretation der Rolle. „Ich finde das phantastisch. Gerade bei der Renata“, betont sie. „Diese Rolle bietet viele unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Und ich muss ehrlich sagen, auch in der dritten Produktion verstehe ich den Charakter dieser Renata immer noch nicht ganz. Wie ist sie? Was ist mit ihr los? Ist sie wirklich besessen? Und wenn nicht, was dann? Es ist für mich immer noch eine rätselhafte Rolle und das finde ich unglaublich spannend.“
Jede der Inszenierungen sei komplett anders gewesen, erzählt sie, und jede habe auf ihre Art recht gehabt. In Zürich ist es der spanische Regisseur Calixto Bieito, der seine Sicht auf Prokofjews „Feurigen Engel“ auf die Bühne bringt. „Seine Interpretation ist für mich am besten nachvollziehbar, denn es gibt keine Mystik, sondern es geht um ein epileptisches Mädchen, das sonst ganz normal ist. Zum Glück also keine Teufelsaustreibung, da ich mir nur sehr schwer vorstellen kann, wie es ist, wirklich besessen zu sein. Ich weiss allerdings auch nicht, was es bedeutet, einen epileptischen Anfall zu haben, aber ich kann es mir eher vorstellen.“
Fremdartiger Prokofjew
Auch musikalisch ist der „Feurige Engel“ anspruchsvoll. „Ich kannte diese Oper von Prokofjew nicht, dabei liebe ich Prokofjews ‚Romeo und Julia‘ oder auch ‚Die Liebe zu den drei Orangen‘. Und als ich erfahren habe, dass ich Prokofjew singen darf, war ich überglücklich. Dann habe ich die Noten studiert und mir die Oper auf youtube angehört … und puhhhh …! Das war gar nicht Prokofjew, wie ich ihn kannte! Da gab es nichts mehr von diesem Klang, der Harmonie und von dieser eigentümlichen, aber melodiösen Musik. Es hat echt lang gedauert, diese Rolle zu lernen, denn die Musik hat etwas Besessenes. Ich konnte nicht länger als zwei Stunden am Tag daran arbeiten. Nicht wegen der Stimme, aber psychologisch ist es ein sehr belastendes Stück.“
Woher aber stammt diese Ausrine Stundyte mit dem fremdklingenden Namen, der sich litauisch ausgesprochen noch fremder anhört, als man es sich beim Lesen vorstellt? Ausrine Stundyte kommt aus Vilnius in Litauen und nichts deutete zu Beginn auf eine Karriere als Sängerin hin. „Meine Eltern leben auf dem Dorf, sie sind ganz einfache Leute, aber sie sind natürlich musikalisch. Das ganze Land ist musikalisch! Alle lieben Musik und singen vor allem gern. Auch mein Vater hat im Freundeskreis viel gesungen. Die Kulturausbildung war das einzige, was am sowjetischen System damals in Litauen gut war. Wir wurden geradezu gezwungen, ins Theater zu gehen, es war unvermeidlich … und das war phantastisch! Es gibt keinen besseren Weg, um Musik kennenzulernen, als Hören, Hören und nochmals Hören.“ Nach der ersten Ausbildung in Vilnius kam Ausrine Stundyte nach Leipzig. „Das war purer Zufall. Ich hatte einen jungen Mann kennengelernt, der in Leipzig studierte und wir haben uns verliebt. Ich wollte ohnehin ins Ausland, so hat sich das ergeben.“ Mit der Musik hat sie weitergemacht, mit dem jungen Mann ist sie allerdings nicht mehr zusammen …
Die Wunschrolle
Weiter ging es nach Köln und schon bald entschloss sie sich, nicht in einem festen Ensemble weiterzumachen, sondern von Rolle zu Rolle, von Stadt zu Stadt und von Bühne zu Bühne zu ziehen. Frei und ungebunden. „Ich bin ein freiheitsversessener Mensch. Schon diese rosa Urlaubsscheine, die man für ein anderes Engagement ausfüllen musste, waren damals in Köln eine Qual für mich“. Ganz ohne rosa Urlaubsscheine ist sie seither unterwegs und es könnte kaum besser laufen.
Und wie ist es mit einer Lieblingsrolle? Hat sie eine? „Von den Rollen, die ich bis jetzt gesungen habe, ist es vielleicht Schostakowitschs ‚Lady Macbeth von Mzensk‘. Diese Rolle habe ich in Antwerpen das erste Mal gesungen und ich bin dem Intendanten Aviel Cahn heute noch dankbar dafür, dass er mir das zugetraut hat …“, sagt sie rückblickend. Aber auch vorausblickend gibt es eine Lieblingsrolle, die im Moment noch ein Wunschtraum ist. „Die Isolde …“. Sie sagt das ganz sehnsuchtsvoll verträumt. Und wenn sie entscheiden könnte, wüsste sie auch schon, mit wem sie das machen möchte: „Mit Calixto Bieto als Regisseur und Fabio Luisi als Dirigent und in Zürich! Das wäre wunderbar. Ich mag kleine Opernhäuser. Man kann sich da auf die Musik konzentrieren, nicht nur auf die Lautstärke, man kann natürlicher spielen, manchmal liegt ja der stärkste Ausdruck in einem Blick, in einer natürlichen Bewegung … das gefällt mir.“ Dann muss sie gleich selbst über ihre Worte lachen, denn: „Im ‚Feurigen Engel‘ ist gar nichts natürlich, da ist alles überzeichnet!“ Und auch das hat seine Richtigkeit.
„Der feurige Engel“
Sergej Prokofjew
Opernhaus Zürich
ab 7. Mai 2017