Einst waren sie die Wortführer der radikalsten Fraktionen der Macht. Erstaunlich, wie einige von ihnen inzwischen scharf, offen und mutig Ali Khamenei, den mächtigsten Mann Irans, kritisieren. An Mahsa Aminis erstem Todestag war ihre Kritik lauter denn je zu vernehmen.
Ob gefürchtet oder herbeigesehnt, vorbei ist Mahsas erster Todestag. Euphorisch erwartete Massenproteste blieben an diesem Tag aus, von einer revolutionären Erhebung ganz zu schweigen. War alles nur Euphorie, Naivität oder Kopfkino, was in diesem letzten Jahr über den Iran geschrieben oder gesagt und für diesen Tag prognostiziert wurde? Allen Muts und aller Aufopferungsbereitschaft zum Trotz kam es bekanntlich nicht so, wie viele es sich wünschten – obwohl die tiefe Unzufriedenheit der grossen Mehrheit der iranischen Bevölkerung ebenso existent ist wie die Unfähigkeit der Mächtigen, die multiplen Krisen des Landes zu lösen.
Doch die rohe Gewalt des Regimes sorgte für die scheinbare Ruhe auf den Strassen. Mahsas Familie durfte an diesem Tag ihr Haus nicht verlassen; der Friedhof, in dem ihre Tochter begraben liegt, wurde von hochgerüsteten Truppen umstellt. 270 Familienangehörige im vergangenen Jahr getöteter Demonstranten und Demonstratinnen wurden verhaftet. Kampfverbände und Kriegswerkzeug vermochten für äusserliche, oberflächliche Ruhe zu sorgen.
Die unglaubliche Umkehr
Doch die tiefe Wandlung, ja Revolution findet unerwartet anderswo statt und erschüttert die Macht im Inneren des Apparats. «Einerlei, ob an Mahsas Jahrestag etwas passiert oder nicht, das Narrativ der Islamischen Republik ist längst zu Ende. Mindestens 80 Prozent der Iraner und Iranerinnen halten die grosse Erzählung von einem besseren, sinnstiftenden Leben für eine grosse Lüge. Die laute Parole von politischer Unabhängigkeit des Landes hat sich am Ende als völlige Unterwerfung gegenüber China und Russland herausgestellt», sagte Mehdi Nassiri Anfang September in einem Interview.
Um die Tragweite dieser Worte einordnen zu können, muss man einiges über den Autor wissen. Einst war Nassiri ein hochrangiger Geistlicher, ein Lieblingsschüler von Ali Khamenei, dem mächtigsten Mann Irans. Noch wichtiger: Khamenei ernannte ihn zum Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan, die als Sprachrohr der Radikalsten aller Radikalen gilt. Nassiri hatte viele andere wichtige Posten inne. Er sass jenem Komitee vor, das die Freitagsprediger für das ganze Land bestimmt und deren wöchentlichen Predigten inhaltlich festlegt, leitete Filmfestivals im Inneren und diente als Khameneis Gesandter und Kulturattaché im Ausland.
Er ist inzwischen kein Mullah mehr, hat sich selbst «entkleidet», bevor das «Gericht der Geistlichen» ihn dazu zwingt. Die so genannte «Herrschaft des Rechtsgelehrten» hält er mittlerweile religiös für «unrein».
Der politische Islam, zumindest in seiner schiitischen Version, sei völlig gescheitert, sagt Nassiri ganz offen. «Wenn der Iran überhaupt eine Zukunft haben sollte, dann nur in einem säkularen System mit strikter Trennung von Religion und Staat.»
Der Ex-Gardist und der Ausnahmezustand
Und wie Teheran an Mahsas Todestag aussah, beschreibt Rahim Qomeshi in seinem Telegram-Account. Auch um diesen Text bewerten und einschätzen zu können, ist es notwendig, einiges über den Autor zu wissen. Qomeshi war 14 Jahre alt, als die islamische Revolution siegte. Sehr schnell schloss er sich den freiwilligen Verbänden, den Basijis, an, beteiligte sich am Krieg gegen den Irak und war vier Jahre lang Kriegsgefangener in Saddam Husseins Kerkern. Er machte bei den Revolutionsgarden Karriere und wurde Kommandant verschiedener Abteilungen der Garden. Nach dem Krieg studierte er Politologie. Inzwischen ist er als kritischer Autor und Analyst bekannt.
Rahim Qomeshi geht an diesem Jahrestag von Norden nach Süden durch Teheran und notiert seine Beobachtung unter dem Titel Ausnahmezustand: «Als 14-Jähriger hatte ich den Ausnahmezustand des alten Regimes erlebt, doch was ich heute in Teheran sah, war wie die Besetzung des Landes durch eine schwerbewaffnete fremde Armee, die beweisen will, dass Widerstand zwecklos ist. Die Uniformierten ähnelten schwarzgekleideten Astronauten oder Gladiatoren. Am widerlichsten jedoch sahen die ‚Zivilen‘ aus, die mit ihren Funkgeräten, Schlagstöcken und sonstigen Ausrüstungen herablassend auf Passanten und besonders auf Frauen herabschauten. Ein junges Pärchen schlenderte wenige Schritte vor mir. Dem Jungen riefen sie zu, näher zu kommen, das Mädchen sollte weitergehen. Doch sie blieb mutig stehen: ‚Wir sind zusammen, wenn gemeinsames Schlendern verboten ist, verhaftet mich auch!‘ Sie blieb, verteidigte sich beherzt und couragiert. Die ‚Zivilen‘ umkreisten, bedrohten und beleidigten sie, doch mit Bewunderung sah ich, wie sie den Jungen rettete. Das Pärchen setzte seinen Spaziergang fort. Die Gefangenenwagen hätten wahrscheinlich mehrere Tausend transportieren können. Wohin der Reichtum dieses Landes verschwindet, dachte ich mir. Was habt ihr mit diesem Land gemacht? Ihr sät einen solchen Hass, solchen Ekel und solche Feindschaft, um Euch zu schützen – was für ein Preis. Ihr wurdet zum besten Beispiel für alle Diktatoren und schämt euch dafür nicht. Sieht nicht einer eurer Anhänger diese Szenen und sagt euch: So verliert ihr jegliche Würde, Autorität und Ansehen? Was ist das für eine religiöse Herrschaft – oder ist das so, weil die Herrschaft religiös ist? Ich habe vergessen, von den mutigen Frauen zu berichten, die mit oder ohne Kopftuch, mit oder ohne ihre Eltern laut eure Schergen auslachten. Ich hatte Angst, sie aber nicht. Schade, dass ich nicht filmen und fotografieren durfte. Über den Mut der Frauen war ich an diesem Tag ausser mir.»
Der ehemalige IRNA-Chef erzählt
Khameneis Angst sei sehr gross, er sei traurig, ja depressiv und enttäuscht, seine Reaktion entspringe seinem Zustand, sagte Abdollah Nasseri eine Woche vor dem Todestag Mahsa Aminis. Nasseri, der vier Jahre lang Chef der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA war, hält die Reformierbarkeit der Islamischen Republik für ein Ding der Unmöglichkeit. Nur Beobachter, die sich einigermassen mit Despotien beschäftigen, können über die Tragweite dieser Aussage urteilen. In einem solchen System wird derjenige Leiter der offiziellen Nachrichtenagentur, der dem engsten Kern der Macht sehr nahe steht.
Hinter den Mauern des Evin-Gefängnisses verbrannten an Mahsas Todestag vier bekannte Frauenaktivistinnen, unter ihnen Narges Mohammadi, ihre Kopftücher beim Hofgang. Ausreichend, um solche Angst auszulösen.♦
© Iran Journal
Übernahme mit freundlicher Genehmigung vom Iran Journal.