Kargah, zu Deutsch Werkstatt: Hier wird nicht herkömmlich gewerkelt, aber auf andere Weise viel geschafft. Das bundesweit einmalige Projekt wurde mehrfach von Politikerinnen und Politikern aller Parteien gelobt, lokale Unternehmen möchten Sponsoren sein, Ex-Bundeskanzler spendet Redehonorare. Der Verein ist ein Paradebeispiel für ziviles Engagement und Integration. Kargah ist aber nicht nur für Flüchtlinge eine wichtige Adresse, die erste Integrationsschritte machen wollen. Auch die Machthaber in Teheran interessieren sich dafür, was Kargah tut.
Der Anfang: ein Anruf
Der Hilferuf ist kurz und verdächtig. Er klingt wie der Beginn eines Krimis oder der Vorspann eines spannenden Films. Eine nervöse und ängstliche Frauenstimme verlangt, den Chef persönlich zu sprechen. Und das möglichst schon heute. Das Treffen dürfe jedoch nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Bahnhöfe oder Restaurants kämen nicht in Frage.
Die Anruferin spricht Persisch und schlägt vor, sich in der Abenddämmerung in jener engen Gasse zu treffen, die hinter der Volkshochschule Hannover verläuft. Viel mehr kenne sie von der Stadt nicht, sagt sie. Hinter dem Anruf könnte sich vieles verbergen: echte Hilfesuche ebenso wie ein Attentatsplan.
Der Chef: eine stadtbekannte Persönlichkeit
Der Chef, den die Frau zu sprechen wünscht, heisst Asghar Eslami und ist ein in der niedersächsischen Landeshauptstadt bekannter und geachteter Iraner. Der 74-Jährige kümmert sich seit mehr als dreissig Jahren um Bedrängte und Hilfesuchende aus aller Welt. Eslami steht dem Integrationsverein Kargah vor: ein bundesweit einmaliges Vorzeigeprojekt. Die Stadtoberen, die Landesminister und lokale Unternehmen sind voller Lob für diesen Verein – doch viel Ehr‘, viel Feind.
Tragödie in wenigen Sätzen
Trotzdem begibt sich Eslami am besagten Abend in die Gasse im Zentrum der Stadt. Dort begegnet er einer Frau um die 20, die hastig und ängstlich in wenigen Sätzen ihr Schicksal erzählt. Sie komme aus der südiranischen Stadt Shiraz, sei dort Klassenbeste gewesen, wollte studieren, doch via Internetchat habe sie einen Iraner kennengelernt, der in Hannover wohnt. Mit einem Heiratsvisum sei sie deshalb vor einem Jahr in die Stadt gekommen. Seitdem werde sie wie eine Gefangene behandelt, ihr Mann sei gewalttätig, ihren Pass habe er versteckt und drohe ihr ständig mit dem Hinauswurf aus Deutschland. „Der Chef“ hört sich die Geschichte an und verabredet mit der jungen Frau einen weiteren Termin für den nächsten Tag. Doch das Treffen kommt nicht zustande. Sechs Monate lang bleibt die Frau verschwunden, bis sie schliesslich eines Tages völlig aufgelöst und ohne Papiere in den Räumen des Hilfsvereins Kargah erscheint.
Kargah wird aktiv
Der Rest der Geschichte verläuft wie programmiert, solche Fälle sind seit Jahren Alltag für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kargah, hundertfach erlebt und erledigt. Die Frau wird in einem Frauenhaus ausserhalb von Hannover untergebracht, die nötige Bürokratie erledigt, neue Papiere besorgt, die Scheidung durchgesetzt, um am Ende ein neues, legales und zugleich sicheres Leben für sie zu organisieren. All das ist zwar schwierig, aber machbar – jedenfalls für Kargah.
Die einst unterdrückte und ängstliche Frau ist heute eine selbstbewusste, erfolgreiche und bestens integrierte Dame, der Exmann lässt sich nicht mehr blicken. Doch das ist trotz aller Dramatik nur die eine Hälfte der Geschichte. Die andere Hälfte spielt sich im Iran ab.
Kargah und die Mächtigen in Teheran
Denn die Kargah-Mitarbeiter finden im Lauf ihrer Recherche auch heraus, dass diese unerträgliche Ehe auch einem anderen Zweck dienen sollte. Im Iran planten offenbar die Revolutionsgarden, mit Hilfe dieser Ehe einen Agenten in Hannover zu installieren, der die Aktivitäten rund um Kargah genauer beobachten sollte. Eine Erkenntnis, die das Kargah-Team wenig überraschte. Die Mitarbeiter sind sich bewusst, dass ein mächtiger Geheimdienst wie der iranische sie natürlich auf seinem Schirm hat.
Denn Kargah ist effektiv, erfolgreich und populär, nicht nur bei Exiliranern, sondern auch bei lokalen Behörden. Warum ist dieser Verein so erfolgreich, wer arbeitet dort, weshalb mögen ihn die deutschen Behörden und woher kommt sein Geld? Für diese und ähnliche Fragen müssen sich die Geheimdienstler in Teheran natürlich interessieren.
Mustergültige Integrationsarbeit
Suchte man eine Bestätigung für den berühmten Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Wir schaffen das“, wäre Kargah der beste Nachweis. Es würde Bände füllen, wollte man all jene dramatischen Schicksale erzählen, mit denen die Mitarbeiter in den vergangenen 30 Jahren zu tun hatten, alle Erfolge aufzählen, die sie erzielten. Man muss nur das Buch „Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte“ lesen. Darin beschreiben die Autoren anschaulich, dass ihre Lebenswege ohne die Hilfe des Vereins mit Sicherheit anders verlaufen wären. Als Kinder sollten sie aus der Bundesrepubik abgeschoben werden. Später schafften es die drei Brüder an Elite-Unis.
Asghar Eslami erzählt voller Dankbarkeit und mit hörbarem Stolz eine sehr persönliche Geschichte über eine Wiederbegegnung, die verdeutlicht, was Integrationsarbeit leisten kann. Im vergangenen Winter kam er mit einer lebensbedrohlichen Krankheit als Notfall in ein Krankenhaus. Über die Diagnose, den Operationsumfang und die Behandlungsmethoden wird zwischen Ärzten und Angehörigen heftig debattiert. Die Lage ist ernst und beängstigend, es herrscht Ratlosigkeit. Plötzlich erscheint der Chefarzt der Station und erkennt Eslami wieder. Sofort erklärt er ihn zu seinem persönlichen Patienten und operiert ihn selbst. Zwanzig Jahre zuvor war er selber als Flüchtling in den Räumen von Kargah erschienen, hatte um Hilfe gebeten und sie bekommen.
Unersetzlich, nützlich und effektiv
Dieser Verein hat es im wahrsten Sinne des Wortes geschafft und schafft es noch immer, ein Paradebeispiel zu sein: für gelungene Integration von Immigranten ebenso wie für das zivile Engagement Einheimischer. Kargah ist in Hannover heute eine unverzichtbare Institution, bei der 80 Hauptamtliche und über hundert ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten. Menschen aus dem Iran bilden nur einen Bruchteil der Hilfesuchenden, um die sich Kargah kümmert. In dem Verein hört man fast alle Sprachen der Welt. In den wenigen Räumen in einer ehemaligen Federbettfabrik begegnet man zudem einem besonderen Arbeitsklima: Der Umgang mit den Klienten ist sachlich, distanziert und professionell wie in einer Anwaltskanzlei, die Vielzahl selbstorganisierter Aktivitäten dabei enorm.
Hier wird in fünfzehn Kursen Deutsch unterrichtet und Weiterbildung oder Qualifizierung vermittelt. Hier sitzen 32 Berater und Beraterinnen, die in dreizehn Sprachen Flüchtlingen den Weg durch das deutsche Bürokratiedickicht zeigen. Hier gibt es ein Medienprojekt für Flüchtlinge und ein Restaurant, all das auf weniger als 250 Quadratmetern.
Doch Kargah kann noch mehr. Man renoviert Kinderspielplätze in der Stadt, veranstaltet Theateraufführungen und Konzerte, und lädt Experten ein, über aktuelle Themen zu diskutieren. In der Regierungskommission, die über Asylhärtefälle entscheidet, sitzt eine Vertreterin von Kargah, deren fast 30-jähriger Sachverstand geschätzt wird.
Rund um die Uhr gegen Zwangsehe und häusliche Gewalt
Will man aus der Bandbreite dieser Aktivitäten etwas herausgreifen, was Kargah bundesweit einmalig macht, kommt man an SUANA nicht vorbei. Die fünf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieses Krisentelefons gegen häusliche Gewalt sind rund um die Uhr erreichbar. Hier können Mädchen und Frauen, die von Zwangsheirat bedroht sind oder sich in einer Zwangsehe befinden, Rat und Hilfe finden. Auch Freunde, Lehrkräfte und Mitarbeiter von Behörden oder Beratungsstellen können sich informieren. Über Arbeitsmangel kann sich Suana nicht beklagen.
Finanzielle Unabhängigkeit
Woher kommt das Geld für all diese Aufgaben? „Projektbezogene Hilfen und Spenden sind unsere finanziellen Quellen“, sagt Asghar Eslami: „Wir wollen unabhängig bleiben.“ Und diese Quellen versiegen offenbar nicht, denn Kargah ist ein durch und durch transparenter Verein, vertrauenswürdig und zugänglich für jedermann. Es gibt Dutzende Schreiben örtlicher Unternehmen wie etwa der städtischen Sparkasse, die sich selbst als Sponsoren empfehlen.
Ex-Kanzler und Ex-Bundespräsident mögen Kargah
Als der damalige niedersächsische Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Christian Wulff (CDU) Kargah vor Jahren besuchte, habe er sich alles genau erklären lassen und zu verstehen gegeben, dass er für den Verein stets ein offenes Ohr habe, erinnern sich die Mitarbeiter. Andere Politiker und Lokalgrössen spendeten persönlich. Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD), ebenfalls ein Hannoveraner, liess mehrmals eigene Redehonorare als Spende an Kargah überweisen – übrigens fünfstellige Summen. Landesbehörden und Europäische Union zeigen sich wohlwollend, wenn Kargah mit einem neuen Projekt vorstellig wird.
Mögen oder bekämpfen? Unsichere Machthaber in Teheran
Kargah bietet im Jahr unterschiedliche Veranstaltungen bezüglich des Iran, besonders über die Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik
Kargah geniesst also viel Anerkennung, der Verein ist präsent in Hannover und darüber hinaus. Eine solche Bedeutung kann auch den Machthabern in Teheran nicht entgehen – zumal Hannover Gastgeberstadt einer weltbekannten Messe ist, die regelmässig von iranischen Managern besucht wird. Amüsiert erzählen Kargah-Mitarbeiter, wie sich alljährlich iranische Messebesucher in die Räume des Vereins verirren und niemand weiss, ob sie Asylhilfe suchen, ihre Neugier befriedigen wollen oder einfach unvorsichtige Spione sind. Oft kämen Anrufe aus dem Iran, sagt eine Kargah-Mitarbeiterin: Mal flehe jemand um Hilfe, weil er politisch verfolgt sei, mal wolle jemand nur eine Information über Hannover oder dass man ihm beim Messebesuch behilflich sei. Was sich tatsächlich hinter diesen Anrufen verbirgt, ist ungewiss.
Dabei könnten auch die Machthaber in Teheran Kargah mit den Brillen der deutschen Behörden betrachten, also als ein Projekt, das geflüchteten Iranerinnen und Iranern hilft, sich in Deutschland zu integrieren. Und davon könnten doch alle profitieren. Darf man aber so viel Vernunft von ihnen erwarten? Wohl kaum.
Völlige Klarheit gibt es auch aufseiten der Integrierten nicht. In der neuen Heimat sind sie zwar erfolgreiche und anerkannte Bürger, doch der Mehrheit von ihnen fehlt die Bereitschaft, sich der alten Heimat zu nähern. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Manche können nie die Gründe ihrer Flucht vergessen. Die Abneigung gegen die dort Herrschenden bleibt für immer bestehen.
Und wer es schafft, den alten Gram zu überwinden, weiss trotzdem nicht, ob sein in der Fremde erworbenes Wissen und Können in der Heimat überhaupt gefragt ist. Andere, die sich auch im Ausland weiterhin beobachtet fühlen, wagen deshalb keine Annäherung. Zumal die Signale, die aus dem Iran an die Exilierten gesendet werden, widersprüchlich sind. Mal ist man willkommen, mal wird man allein wegen einer doppelten Staatsangehörigkeit verfolgt, wie Beispiele der vergangenen Monate zeigen.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal