Finden Sie mich feige, weil ich nicht ins Militär will? Bin ich deshalb für Sie etwa kein richtiger Mann? Und schon gar kein richtiger Schweizer?
Lassen Sie mich raten: Sie sind gegen Gewalt. Trotzdem denken Sie, dass die aktuellen Gefahren, welche die Schweiz bedrohen, nur mit Hilfe einer tadellos funktionierenden Armee gestoppt werden können. Und dabei geht es Ihnen nicht nur um Ihre eigene Sicherheit, sondern auch – vielleicht sogar vorrangig – um die Schweizer Werte, die bewahrt und beschützt werden müssen.
Da gebe ich Ihnen Recht. Doch was genau verstehen Sie unter „Schweizer Werten“? Sie werden sagen: Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung. Ungefähr in dieser Reihenfolge. Vielleicht noch Toleranz. Dass Waffengewalt Toleranz aber nicht stärkt, das sehen Sie auch. Und ich habe grosse Zweifel, ob wir unsere Werte schützen, wenn wir junge Menschen ins Militär zwingen, wo sie ohne jegliche Mitsprache den Befehlen ihrer Vorgesetzten nachhecheln sollen – und zwar auch noch im 21. Jahrhundert ausschliesslich die Männer. Da stimmt doch etwas ganz gewaltig nicht.
Und was meinen Sie eigentlich genau, wenn Sie „Freiheit“ sagen? Meinen Sie, dass Sie in den Supermarkt gehen können und von früh bis spät eine unübersichtlich grosse Auswahl von Konsumgütern vorfinden? Wählen zu können, was Sie konsumieren, macht sicher einen Teil Ihres Freiheitsbegriffes aus. Das ist aber nicht zwingend Freiheit, sondern vor allem Überfluss. Ein Überfluss, der auf dem Rücken Schwächerer erwirtschaftet wurde. Sogar dieser Text, den Sie in diesem Moment lesen, steht Ihnen nur zur Verfügung, weil Technologie in der Schweiz so billig verfügbar ist. Sie können ihn nur deshalb konsumieren, weil Kinder rund um die Welt ihre Zukunft, ihre Gesundheit und ihr Leben für unseren Konsum aufs Spiel setzen. Nennen Sie das gerecht? Ist das Gleichberechtigung? Nennen Sie es demokratisch, wenn die Schweiz diktatorische Regime unterstützt, die unsere Werte zwar verachten, aber dafür wenigstens das Elend aus der Schweiz aussperren? Das ist es nicht.
Es geht Ihnen also nicht um die Schweizer Werte, wenn Sie fürs Militär sind. Es geht Ihnen nur darum, sicherzustellen, dass Sie auch in Zukunft Ihrem Konsum frönen können. Mit allem Respekt: Dafür gehe ich nicht ins Militär. Es geht Ihnen nicht um die Bedrohung Ihrer Sicherheit. Es geht um Ihr Nationalego.
Denn das ist die wahre Aufgabe des Militärs: Es soll für Sie ein glorifiziertes Bild der Schweiz entwerfen: Einer Schweiz als uneinnehmbarer Festung mit Bunkern und Geschützen, gesichert durch eine Truppe von tatkräftigen, starken jungen Mannen. Dieses Bild wird auch in den Prospekten, die mir das Militär zuschickt, zelebriert, und genau dieses Gefühl wird auch an den Orientierungstagen des Militärs heraufbeschworen. Und genau das meinen Sie, wenn Sie Jungen wie mir auf die Schulter klopfen und sagen, jetzt seien wir dran. Jetzt sollen wir das Vaterland verteidigen und richtige Männer werden. Mutig unsere Pflicht erfüllen. Und damit zeigen, dass wir richtige Schweizer sind.
Damit nicht genug: Auch für die Überwindung veralteter Geschlechterrollen stehen Sie selbstverständlich ein. Und dennoch rufen Sie mich dazu auf, allzeit bereit zu sein und alles für die Verteidigung meines Vaterlandes zu tun; nur weil ich einen Penis habe! Sehen Sie nicht, dass das ein sexistisches Klischee ist? Die Überwindung dieser Rollenklischees stellt einen wichtigen Teil unserer Werte dar. Und die Verteidigung genau dieser Werte haben Sie sich doch ausdrücklich auf Ihr Schweizer Fähnchen geschrieben. Sie konfrontieren mich mit einem längst veralteten Bild eines männlichen Helden; und ich soll danach streben, weil das die Emanzipation schützen soll?
Sie versuchen also allen Ernstes, mich nicht nur mittels eines sexistischen, sondern auch noch eines nationalistischen Klischeebildes zu motivieren. Ich sei nur ein richtiger Schweizer, wenn ich männlich-mutig zu den Waffen greife. Obwohl Sie wissen, dass es falsch ist, sehnen Sie sich nach diesem Bild. Obwohl Sie den Chauvinismus stets als gefährlich und veraltet abtun, bereitet Ihnen dieses Bild der Schweiz immer noch Freude. Wilhelm Tell wurde von einem Deutschen erfunden – zumindest so, wie wir ihn heute feiern. Auch das wissen Sie genau. Und jetzt möchten Sie wirklich, dass ich für dieses klischierte Trugbild ins Militär gehe? Das werde ich nicht.
Darum entgegnen Sie nun, es sei eine Erfahrung, die man eben mal machen müsse. So ein Stuss! Wenn Sie ein Elternteil sind und das Gefühl haben, dass ein Jahr lang Krieg auf Kosten des Steuerzahlers zu spielen Ihrem Kind etwas mitgibt, das Sie ihm nicht vermitteln konnten, haben Sie dann nicht total versagt? Soll das Militär den jungen Balgen Respekt einflössen, weil Sie in Ihrer antiautoritären Erziehung niemals der Böse sein wollten?
Und jetzt wollen Sie, dass ich bereit bin, für die Schweiz zu töten und zu sterben. Gleichzeitig verachten Sie jeden Moslem, der sich nicht ständig von Selbstmordattentätern distanziert. Dann haben Sie also das Gefühl, dass ein junger Mann, der bewaffnet in seinen sicheren Tod rennt, heldenhaft ist, solange er für Ihre – und nur für Ihre – Werte kämpft. Was unterscheidet Sie dann noch von einem islamistischen Hassprediger, der einem jungen Mann einen Sprengstoffgürtel überzieht, wenn Sie mich in die Militäruniform zwingen und für die gute Sache opfern wollen?
Sie müssen sich entscheiden: Wenn Sie die Emanzipation wollen, dann können Sie nicht propagieren, dass ein richtiger Mann ins Militär gehen muss. Und wenn Sie in der heutigen Zeit leben wollen, dann dürfen Sie nicht mit einem so veralteten Nationalbegriff um sich werfen. Wenn Sie glauben, dass Kinder von Autoritätspersonen nicht geschlagen werden dürfen, dann sollten Sie diesen antiautoritären Ansatz nicht beim ersten Versprechen für Sicherheit über den Haufen schiessen. Sie sehen: entweder Schweizer Werte oder Militär.
Jetzt sagen sie vielleicht, dass ich Sie vor ein falsches Dilemma stelle. Diese Radikalität sei ungehörig und nicht angebracht. Doch genau das ist sie. Denn das ist das Schöne an Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz: Sie sind absolut; nur ein bisschen geht nicht.
Letztlich werden Sie anfügen, dass mein Denken zu idealistisch sei. Spätestens wenn die Russen mit ihren Panzern in Oerlikon stehen, sei dann auch ich fürs Militär. Doch genau das ist es: Islamischer Staat, Nordkorea, Trump und Putin sind alles Gefahren, gegen die das Militär in seiner heutigen (Un-)Form machtlos ist. Der Islamische Staat freut sich sogar über unser Militär: Die Hassprediger des Islamischen Staates können genau dort anknüpfen, wo Sie aufhören. Ein richtiger Mann sei nur, wer bereit ist, für das Richtige zu sterben. Aber Ausländer dürfen nicht ins Militär. Die müssen sich ein anderes Richtig suchen. Der Islamische Staat muss dann nur noch die Hand ausstrecken und den Verstossenen aufzeigen, dass auch die Schweiz nicht perfekt ist. Spoilerwarnung: Sie ist es nicht.
Damit Sie mich ja nicht missverstehen: Ich möchte mit Nachdruck betonen, dass ich die Schweiz für schützenswert halte. Und genau darum bin ich gegen das Militär. Ich glaube, dass das wirklich Schützenswerte an der Schweiz unsere Werte sind. Genau diese Werte werden bereits durch die blosse Existenz des Militärs mit Füssen getreten. Wenn Sie die Schweiz so wie ich wirklich schützen wollen, dann müssen Sie das Militär abschaffen.
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Jonathan Clivio wurde im Jahr 1999 geboren und besucht die fünfte Klasse im Realgymnasium Rämibühl in Zürich. Er interessiert sich für Politik, Theater und Mathematik. Im letzten Jahr erreichte er bei „Jugend debattiert“ die Regional-Halbfinals und im Känguru-Mathematikwettbewerb den dritten Platz der Deutschschweiz.
Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected])
Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch