Ohne Trotz wäre vieles nicht so, wie es ist. „Trotz“ kommt von Gegenwehr, Widerstand, Mut, Stolz: Ich bin als Frau gleich viel wert wie der Mann; ich habe als Homosexueller die gleichen medizinischen Behandlungschancen wie als Heterosexueller; auf mich als Schwarzen sind die gleichen Strafverfolgungsmethoden anzuwenden wie auf einen Weissen.
Die sogenannt westlichen Werte sind zu einem wesentlichen Teil das Trotzresultat einer Gruppe von Frühchristen, die ihre Lebensform öffentlich verboten sahen und ihren Glauben im Verborgenen kultivieren mussten, oft unter Lebensgefahr. Hier zeigt sich auch schon die einfache phänomenologische Grundstruktur der Widerspenstigkeit: Man akzeptiert die Bedingungen nicht, unter denen man lebt, aus einem Grund oder auch aus einer Unlust heraus; weil man darunter leidet oder weil man sie für ungerecht hält. Die Maxime: Es könnte anders sein, also muss es anders werden.
I would prefer not to
Lebensentwürfe der Renitenz bietet uns die Literatur an, die ja schon immer die Spielwiese des Andersseinkönnens gewesen ist. Man denkt hier an Robert Walsers Figuren, die sich der Routine und der Rituale des gewohnten Alltags durch poetische Renitenz entziehen.
Vor allem aber schält sich eine Figur aus dem Hintergrund der Literaturgeschichte, die unversehens an Aktualität gewinnt: Hermann Melvilles Bartleby der Schreiber, quasi der Urahne sanfter Arbeitsrenitenz. „Ich möchte lieber nicht“ – auf Englisch klingt der höfliche Trotz noch formvollendeter: „I would prefer not to...“
Man neigt dazu, in Bartleby einen schwermütigen, tragischen Verlierer zu sehen, für den der aufblühende Finanzkapitalismus nur Untergang bedeuten kann. Vielleicht müsste man einmal die Optik umkehren und die Geschichte Bartlebys nicht als trauriges Ende seines Todes weiterschreiben, sondern vielmehr als Überlebenschance im Leerlauf des finanzkapitalistischen Hamsterrads. So betrachtet erwiese sich die Negativität Bartlebys als eigentlich positive Lebensgestalt.
Viele haben wahrscheinlich am Arbeitsplatz, bei einer politischen Wahl, beim Gang durch die Einkaufsstrassen des Supermarkts im Geist schon einmal Bartlebys Trotzformel ausgesprochen, ohne sie womöglich zu kennen. Man will damit ja nicht so sehr dem Trotz als vielmehr einer Erfahrung, ja, vielleicht nur einer Ahnung Ausdruck geben, dass sich hinter all dem, was hier abläuft, sich noch etwas anderes verbirgt. Wenn schon nicht ein ganz anderes Leben, so doch ein Andersseinkönnen – eine Differenz zu dem, was man ist und tut, und lieber nicht sein und tun möchte.
In der Black Box Society
Das klingt etwas diffus, wird aber in der vom Datenverkehr beherrschten Gesellschaft zusehends konkreter. Wir leben immer mehr unter dem Axiom des Verdachts. Der amerikanische Rechtswissenschafter Frank Pasquale schreibt in seinem Buch „The Black Box Society“ vom „dunklen Axiom der NSA“: Verdächtig ist, wer etwas verbirgt. „Verbergen“ heisst, nicht in irgendeiner Datenbank aufgeführt zu sein, kein Datenprofil zu haben. Wer sich also nicht oder nicht genügend am verdateten Leben beteiligt, verbirgt etwas und ist daher ein Verdachtsfall.
Die Tücke dieser Entwicklung liegt darin, dass das Verbergen da, wo alles offen liegt, selbst gar keinen Sinn mehr hat. Es ist nicht einmal Zynismus, wenn Eric Schmidt von Google sagt: Willst du etwas tun, das andere nicht wissen sollen, dann ist es vielleicht am besten, dass du es überhaupt erst unterlässt.
Auf diese Weise unterbindet sich das Wollen gleich selbst präemptiv. Die Grundlinie der Wahrnehmung verschiebt sich – „shifting baselines“: Wir nehmen Veränderungen nicht wahr, weil sich unser Referenzpunkt – in der Regel durch Gewöhnung – verschoben hat. Überwachung ist normal, das Private wird zu einer Marotte. Sicherheit ist zentral, Freiheit wird zur impertinenten Forderung. Konformität ist Lebensform, Autonomie wird zur Trotzreaktion.
Man erinnere sich: Noch in den 1980er Jahren wurde unter Bürgerprotest eine Volkszählung in Deutschland verhindert, die anhand von Fragebögen Haushaltsdaten liefern sollte. Heute braucht man keine Befragungen. Einschalten des Smartphones genügt. Wir justieren uns selbst im neuen Juste Milieu.
Reality-Mining
Die Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Sie setzt sich mit der Transformation vom Data-Mining zum „Reality-Mining“ fort. Nun geht es nicht bloss um meine Daten, sondern um mich selbst, mein Verhalten, meine Gewohnheiten. Das Social Engineering nimmt in der Gestalt einer neuen Netzwerkphysik die Idee der Gesellschaft selbst ins Visier eines elaborierten statistischen Kalküls. Der technisch ausgerüstete Mensch ist hier nurmehr „Knoten“ im Netz der smarten Dinge, und soziale Beziehungen sind „Kanten“.
Alex Pentland, einer der neuen Soziologen, spricht ruhmredig von einer „Wiedererfindung der Gesellschaft im Sog von Big Data“ und hält mit seiner Vision nicht hinterm Berg: „Wer du tatsächlich bist, wird bestimmt durch den Ort, wo du deine Zeit verbringst, und die Dinge, die du kaufst (...) Indem Wissenschafter diese Art von Daten analysieren, können sie dir eine Menge Dinge über dich erzählen. Sie können dir sagen, ob du eine Person bist, die ihre Kredite zurückzahlt oder für Diabetes anfällig ist.“
Meine Klickgeschichte: das bin ich. „Die Macht der sozialen Physik,“ schreibt Pentland, „leitet sich aus dem Faktum her, dass fast alle unseren alltäglichen Handlungen Gewohnheiten sind und meistens darauf beruhen, was wir durch die Beobachtung anderer gelernt haben.“ Was in mir sonst noch vorgeht, interessiert die Sozialphysik nicht, „weil sie nicht die inneren kognitiven Prozesse zu erfassen sucht. Sie hat dadurch einen irreduziblen Ungewissheitskern, indem sie den Erklärungsfaktor des bewussten menschlichen Gedankens als Handlungsgrund vermeidet.“
Man muss sich das vor Augen führen: Die Soziologie betrachtet den Menschen als sozialen Partikel ohne Bewusstsein! Das entspricht genau dem transparenten Menschen, der seine Privatheit aufgegeben und sich in einen „Knoten“ im Netz verwandelt hat.
Die Dinge sind gegen uns
Die subtile und verborgene Überwachung ist eingebaut in die smarten Dinge, auf die wir ständig angewiesen sind. Es gibt bereits das „Affective Computing“, Mustererkennungs-Software, die aus meiner Physiognomie meine Wünsche und Absichten zu erraten sucht. Ein Programm mit dem sinnigen Namen „Beyond Verbal“ analysiert die Intonation der Stimme. Das Startup „Humanyze“ (man beachte die Subtilität der Namensgebung) benutzt soziometrische Methoden in Kombination mit Wearables, um den Personalbüros von Firmen in der Durchleuchtung der Befindlichkeit ihrer Angestellten zu Hand zu gehen.
Dinge werden weniger gebraucht, als dass sie uns brauchen. Sie kolonisieren unser Selbst, sie zersetzen unsere Privatheit – der erste Schritt der totalitären Inbesitznahme. Der englische Humorist Paul Jennings konnte 1948 in seiner genialen Persiflage des Existenzialismus nicht ahnen, wie treffend er die neue Technologie beschrieb. Deren Prinzip nannte er „Resistenzialismus“: Die Dinge sind gegen uns.
„Der Illusion wachsender menschlicher Beherrschung der Dinge,“ schrieb Jennings, „entspricht die wachsende Feindschaft (und Macht) der Dinge, die sich gegen ihn wenden. Der Mensch des Mittelalters kannte nur ein paar Dinge, um die er sich sorgen musste – ungenügende Beleuchtung bei Nacht, das schlichte Loch im Dach, durch das der Rauch entweicht und der Regen eindringt (...) Der moderne westliche Mensch hat viel mehr Gelegenheiten, die Schlacht gegen die Dinge zu verlieren – Büchsenöffner, Kragenknöpfe, Schubladen, offene Senklöcher, Schuhbändel...“ Die Tücke dieser „dummen“ Dinge erscheint geradezu rührend harmlos im Vergleich zur smarten Glühbirne von heute, die alles mithört.
Im Kellerloch
„Augenblicklich möchte ich ganz und gar nicht vernünftig sein“. – Diese Worte Bartlebys verleihen der Renitenz noch eine weitere Dimension. Sie klingen zunächst wie eine antiaufklärerische Devise, galt doch die Vernunft als jene Instanz, die den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit führt.
Aber heute breitet sich die Unmündigkeit anders aus, in Form von Versprechungen, die uns die mobilen Apps machen, indem sie uns sagen, was wir tun oder wollen sollen. Projekte wie jene Pentlands legen einen radikaleren Vernunftgebrauch nahe, wie ihn Dostojewski in seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ skizziert. Der Mann im Kellerloch nimmt es sogar mit den Naturgesetzen auf: „Selbst wenn (der Mensch) sich wirklich nur als Klaviertaste erweist, und selbst wenn man es ihm sogar mathematisch und naturwissenschaftlich beweist, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, sondern im Gegenteil absichtlich Unheil stiften (...) eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehen (...) Er wird der Welt fluchen, da aber nur der Mensch fluchen kann (...), wird er unter Umständen allein schon mit diesem Fluch das Seine erreichen, das heisst, er wird sich tatsächlich überzeugen, dass er ein Mensch und keine Klaviertaste ist. Sollten Sie behaupten, man könne auch dies nach der Tabelle berechnen, sowohl das Chaos als auch die Finsternis und den Fluch (...) – so wird der Mensch in diesem Fall absichtlich verrückt werden (...) um auf dem Seinen zu bestehen (...) Sie rufen mir zu (...), dass mir doch niemand den Willen streitig mache; dass man es nur darauf anlege, alles irgendwie so einzurichten, dass mein Wille ganz von selbst, aus eigenem Willen, mit meinen normalen Interessen zusammenfalle, mit den Naturgesetzen und der Arithmetik.“
Irrationalität als letzte Bastion des Individuellen
Der Mensch im Exil des Kellerlochs, der aus freiem Entscheid verrückt wird, um auf dem „Seinen“ zu bestehen: das ist die ungeheuerliche Vision einer globalen Zivilisation, in der die Irrationalität die letzte Bastion des Individuellen darstellt. Sie gewinnt in dem Mass an beklemmender Bedeutung, in dem sich die „Vernünftigkeit“ neuer gesellschaftlicher Standards durchsetzt, diktiert von Technologiekonglomeraten wie Google, Facebook und Apple.
Der amerikanische Autor Dave Eggers hat dieses narrative Szenario in seinem Roman „The Circle“ durchgespielt. Reale Ansätze zu Normenverschiebungen gibt es durchaus bereits. Sie zeigen sich überall da, wo unser Verhalten sich schleichend an die neue Lebenswelt der Gadgets und Apps anpasst: das Mobiltelefon am Esstisch; das Armband, das mir ständig Blutdruck, Puls und Körpertemperatur mitteilt; die Identität, die ich mir über den Chatroom hole. Sie zeigen sich auch im achselzuckenden Positivismus der Unabwendbarkeit. Nichts ginge mehr ohne Elektronik, Photonik, Robotik, sagt die EU-Kommissarin Neelie Kroes. Ihrer Weisheit letzter Schluss: „(Die) digitale Welt ist nun einmal da und wir (können) uns nicht von ihr abwenden.“
Renitenzialismus, der Existenzialismus unserer Zeit
Wir vergessen es leicht: Die Autonomie des Individuums ist nie etwas Gegebenes, Selbstverständliches. Sie muss auf jeder neuen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erobert werden. In einer Informationsgesellschaft, wo die Grenzen zwischen privater und staatlicher Verfügungmacht über die Daten sich immer mehr verwischen, kommt dem Trotz in der Behauptung unserer Autonomie eine wichtige Bedeutung zu. Er ist nicht bloss eine Reaktion, sondern eine Haltung, die man verantwortet: eine existenzielle Grundlinie, die uns erlaubt, im Zugemuteten das Unzumutbare, im Unabwendbaren das Abwendbare, in unserem Sosein das Andersseinkönnen zu erkennen. Eine Bereitschaft zur Entwöhnung. Dies meint Renitenzialismus.
Man sollte also in ihm nicht primär ein politisches Programm oder Aktivismus à la „Occupy“ oder „Empört euch!“ sehen, auch nicht eine Verweigerungshaltung gegenüber diesem und jenem, sondern sozusagen eine Kalibrierung des eigenen Lebens: einen Existenzialismus. Vielleicht ist der Renitenzialismus die zeitgemässe Form des Existenzialismus: Ich trotze, also bin ich. Es gälte, diesen Trotz in verschiedenster Gestalt in unseren Lebensbereichen zu entdecken und vor allem genau hinzuschauen, wo, wann und warum man ihn zum Schweigen bringen will: in Spitälern, Gefängnissen, Altersheimen, Schulen, Fabriken, Büros, Redaktionen, im eigenen Haus. Es könnte immer sein, dass jemand mit seiner Renitenz ein Stück humaner Würde verteidigt. Auf jeden Fall gibt es einen Lebenssinn in der Renitenz, den jede Person für sich heben kann.