Das Architekturstudium in Dresden hat der 1880 geborene Kirchner nur auf Druck des Elternhauses absolviert. Für ihn ist klar, dass er Maler sein will. Die Kunst ist in gewaltigem Umbruch. Der junge Kirchner sucht und findet Gelegenheiten, Werke von Gauguin, van Gogh, Signac, Vuillard, Valloton, Cézanne zu sehen. Auch mit dem italienischen Futurismus kommt er in Berührung. Mit den Freunden Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff gründet er 1905, noch vor Abschluss des Studiums, die Künstlergruppe „Brücke“, die sich zunächst der Aktmalerei im Atelier und in freier Natur widmet. Die „Brücke“ findet Echo und verzeichnet im Verlauf der Jahre mit Cuno Amiet, Emil Nolde, Max Pechstein und dem Fauves-Vertreter Kees van Dongen gewichtige Zugänge, bis sie 1913 an Kirchners autoritärem Gebaren zerbricht.
Die Zürcher Ausstellung legt den Schwerpunkt auf die Periode 1911 bis 1917, Kirchners Berliner Jahre. Er ist in die Reichshauptstadt gezogen in der Hoffnung auf besseren Zugang zum Kunstmarkt. Aus der vormals verschlafenen Residenzstadt ist im Lauf des 19. Jahrhunderts eine pulsierende Metropole geworden, geprägt von den zeittypischen Gegensätzen zwischen verelendetem Proletariat und wohlhabendem Bürgertum. Kirchner taucht ein ins Grossstadtleben, wandert durch die Strassen, frequentiert die nächtlichen Lustbarkeiten. Er sieht alles mit einem distanzierten Blick und hält die urbanen Szenen reflexartig in seinen Skizzenbüchern fest.
Malen ohne Bewusstsein
Der Dichter und Psychiater Alfred Döblin – er gehört zu Kirchners grossem Berliner Bekanntenkreis – hat für sein eigenes Schreiben eine Poetik der „Entselbstung“ und „Depersonation“ formuliert: „Ich bin nicht ich, sondern die Strasse, die Laterne, dies und dies Ereignis, weiter nichts.“ Ernst Ludwig Kirchner eignet sich diese literarische Kunstauffassung für sein bildnerisches Schaffen ausdrücklich an. Er verficht die Idee eines Schaffensvorgangs „ohne Bewusstsein“, was wohl heissen soll: ein impulsiv-reaktives Gestalten ohne rationale Steuerung. Kirchner, der seine Malerei immer wieder selbst deutet – und ganz unbescheiden als massgebend einstuft –, sieht in solch intuitivem Schaffen den eigentlichen Grund seines künstlerischen Ranges. Bei einem seiner Aufenthalte auf der Insel Fehmarn geht ihm, wie er in einem Brief mitteilt, das Malen leicht von der Hand, „da ich dieses Jahr vollständig in der Landschaft und dem Leben da oben aufging und nur fast ohne Bewusstsein zuzugreifen brauchte.“
Fehmarn: 1908 ist Kirchner erstmals im Sommer mit Malerfreunden auf der Ostseeinsel. Er erlebt bis 1914 noch drei weitere Sommer dort mit seiner Freundin, der Tänzerin Erna Schilling, sowie wechselnden Malerkollegen und deren Gefährtinnen. Man badet nackt im Meer, geniesst das naturnahe Leben und die Schönheit der Landschaft. Für Kirchner ist Fehmarn Sehnsuchtsort und Inspirationsquelle einer reichen künstlerischen Produktion. Die Ausbeute von den insgesamt nur etwa sechs Monaten des Aufenthalts auf der Insel zählt neben 120 Gemälden rund 600 weitere Arbeiten. Auch wenn die über 700 Werke teilweise erst nachträglich in Dresden und Berlin im Atelier fertiggestellt worden sind, weisen die Zahlen doch auf einen regelrechten Schaffensrausch hin.
Das von Kirchner zum ästhetischen Prinzip erhobene unwillentliche, ungesteuerte Sehen und Gestalten zeigt sich am klarsten in seinen Zeichnungen und Skizzen. Rasch hingeworfen, oft mit sehr kraftvollem Bleistiftstrich, halten sie Eindrücke vom Inselleben wie auch aus der Grossstadt spontan fest. Dieser flüchtige skizzenhafte Charakter findet sich in den Gemälden wieder, obschon sie gleichzeitig meist sehr klar und eigenwillig aufgebaut sind. Kirchners Malerei hält sich auffällig oft an eine diagonale Bildgliederung. Sie bevorzugt extreme und verzerrte Perspektiven und äussert sich in einer oft lautstarken flächigen Farbigkeit.
Kirchner malt im Bewusstsein, an der Spitze der künstlerischen Avantgarde zu stehen und sich so auf der Höhe des rasenden allgemeinen Fortschritts zu bewegen. Allerdings kommt der von anderen Malern bereits eingeschlagene Weg zur vollständigen Abstraktion (Kasimir Malewitsch stellt sein Schwarzes Quadrat 1915 in St. Petersburg aus) für Kirchner nicht in Frage, weil für ihn die Gestalt des Menschen in der Kunst zentral ist. Er bleibt daher bei einer figurativen Malerei, allerdings unter programmatischem Verzicht auf eine naturalistische Imitation der Objektwelt, wie sie bis zum Impressionismus der herrschende ästhetische Kanon war. Statt „die Natur“ zu imitieren, wird sie nun transformiert in eine zwar freie, aber als figürliche Darstellung erkennbare Malweise.
Expressionist oder nicht Expressionist?
Die eben genannten Stilelemente sind die wesentlichen Merkmale des Expressionismus, und Kirchner gilt ja auch als ein, für viele gar als der Hauptexponent des deutschen Expressionismus. Interessanterweise hat er selbst in späteren Jahren diese Etikette für seine Malerei abgelehnt. Seine Zurückhaltung könnte daran liegen, dass im Begriff des Expressionismus die Intensität des Ausdrucks steckt: Es geht um Emotionen; sie sind mit Heftigkeit herausgestellt. Alle gestalterischen Mittel stehen im Dienst solcher Gefühlsausbrüche. Das fühlende Ich des Künstlers ist der beherrschende Bezugspunkt.
Kirchner behauptet zumindest, diese Ich-Exposition nicht zu wollen, sondern idealerweise „fast ohne Bewusstsein“, gewissermassen seismographisch zu malen. Es scheint allerdings, dass er sich damit in einen kaum lösbaren Widerspruch verwickelt. Stilgeschichtlich gehört er klar zum Expressionismus. Sein ganzer künstlerischer Habitus spricht nicht für eine Zurücknahme seines Ich. Wer wie er unter Pseudonym eigens einen Kunstkritiker erfindet, um die eigene Produktion ins rechte Licht zu stellen, wer zudem Entstehungszeiten eigener Werke fälscht, um die Urheberschaft bestimmter malerischer Findungen beanspruchen zu können, der ist nicht der Typ, als Künstler quasi hinter seine Motive zurückzutreten. Kirchners Selbstbewusstsein und Geltungsdrang sind ihm nicht anzukreiden; aber es sind kaum Eigenschaften, die mit seinem ästhetischen Ideal zusammengehen, wonach der Maler eine Art Resonanzkörper wäre, der „ohne Bewusstsein“ die Schwingungen des Zeitgeists aufnähme und wiedergäbe.
Bewegte Grossstadtsinfonie
Mehr noch als in den bukolischen Fehmarn-Bildern drückt sich Kirchners gestalterische Energie in den Berliner Stadtszenen aus. Dem Brandenburger Tor gibt er mit luftiger Perspektive und schwefliger Färbung einen Dreh ins Unheilschwangere (wir schreiben 1915). Ein leeres Bildzentrum in Gestalt einer fast unbelebten Strassenkreuzung schiebt zwei mächtige symmetrische Häuserblocks kraftvoll an die Bildränder (Strasse am Stadtpark Schöneberg, 1912/13). Mit Bahneinschnitten, Strassenzügen, Brücken schlägt er so mächtige Diagonalen in die Stadtszenen, dass man den Verkehrslärm zu hören meint.
Und erst die berühmten Strassenbilder mit flanierenden Frauen! Feiern die Fehmarn-Sujets eine ursprüngliche Weiblichkeit, so zelebrieren die Strassenszenen mondäne Frauenbilder. Dass die höchst elegant gekleideten Damen in Wirklichkeit Kokotten sind, denen das Stehen auf der Strasse polizeilich verboten ist, gibt der Szenerie einen doppelten Boden. Kirchner führt Glamour und Abgründigkeit dieser Situationen mit kraftvoller Pranke vor Augen.
Moralisierende Deutungen, die in den Stadt- und Strassenbildern Anklagen gegen die Anonymität und Lebensfeindlichkeit der Grossstadt und gegen die Verdinglichung der Frau sehen wollten, herrschten in der Kirchner-Interpretation bis in die 1980er Jahre vor. Sie haben sich nach genaueren Studien erledigt. Nicht nur der Maler selbst, sondern auch das Kunstpublikum sahen in diesen Bildern keine apokalyptische Untergangsszenerie, sondern eine gemalte Grossstadtsinfonie.
Musik ist ein Geschehen im Zeitablauf, bedeutet mithin Bewegung. Kirchners Berliner Strassenbilder zeigen nicht nur sich bewegende Menschen und Fahrzeuge, sondern nehmen oft eine Vielzahl von Perspektiven ein wie ein mit bewegter Kamera aufgenommener Film. Kirchner hierzu: „Es gilt als Bild, was man von einem Punkt aus mit einem Blick übersehen kann. Das ist eine grosse Beschränkung. Ich mache es so. Ich bewege mich und sammle die aufeinander folgenden Bilder in mir zu einem Innenbild. Dieses male ich.“
Zusammenbruch und langes Ende
1915 meldet sich Kirchner zum Kriegsdienst in der Hoffnung, so die Waffengattung selber wählen und der Infanterie entgehen zu können. Es gelingt, und die Front bleibt ihm erspart; dennoch bricht er unter der psychischen und physischen Belastung zusammen. Es folgen Alkohol-, Morphium- und Medikamentenabhängigkeit. Trotzdem arbeitet er weiter. Es entstehen unter anderem der prachtvolle „Schlemihl-Zyklus“ von Farbholzschnitten (1915) und das erschütternde „Selbstbildnis im Morphiumrausch“ (1917). Nach erfolglosen Entziehungskuren reist er 1917 zur Erholung nach Davos, wo er sich später dauerhaft niederlässt.
Trotz internationaler Anerkennung in Fachkreisen und durch Ausstellungen grosser Museen stossen seine Bilder auch auf Widerstand, so bei der Einzelausstellung von 1924 im Kunstmuseum Winterthur. Die Medikamentenabhängigkeit macht ihm immer wieder zu schaffen. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird die Situation für Künstler in Deutschland zunehmend unsicher. Kirchners Werk gilt dort ab 1937 als „entartete Kunst“. Es wird aus den Museen entfernt. Hunderte seiner Werke werden vernichtet, andere ins Ausland verkauft. Als das von Kirchners Zufluchtsort nicht weit entfernte Österreich ans Deutsche Reich angeschlossen wird und in Davos sich die Schweizer Ableger der Nazis, die Frontisten, breit machen, verfällt Kirchner der Panik. Am 15. Juni 1938 erschiesst er sich.
Eine letzte Abteilung der Ausstellung versammelt Bilder aus den Davoser Jahren. Sie haben die Wahrnehmung geprägt, welche vermutlich die meisten Menschen von Kirchner haben. Es ist solide Kunst. Aber sie ist ziemlich langweilig. Die Zürcher Schau macht deutlich, dass es daneben einen ganz anderen Kirchner gibt. Die Berliner Jahre waren in künstlerischer Hinsicht seine besten. Und mit seinen Strassenbildern hat er nicht nur ein Genre geschaffen, sondern eine Reihe von Gemälden hinterlassen, die zum Allerbesten zählen, was die Malerei der Moderne hervorgebracht hat.
Kunsthaus Zürich: Grossstadtrausch/Naturidyll. Kirchner – Die Berliner Jahre, bis 7. Mai 2017, Katalog