Von Hurrikan „Sandy“ sind keine Spuren mehr zu sehen, als Flug UA 937 ab Zürich nach einem dreitägigem Unterbruch der transatlantischen Verkehrsverbindungen an die Ostküste auf dem Internationalen Flughafen Dulles landet.
Pass- und Zollkontrolle gehen so rasch und so reibungslos über die Bühne, als hätten die USA nur darauf gewartet, Fremde wieder willkommen zu heissen. Auch der Taxifahrer, ein arabischer Israeli, ist hoch erfreut, nach mehreren abgesagten Fahrten einen Flugpassagier in die Stadt befördern zu können. Die Stromversorgung in DC, berichtet er, klappe mit wenigen Ausnahmen erneut, und lediglich der Wasserstand des Potomac bereite an einigen Stellen, unter anderem in Old Town Alexandria, noch Sorgen. Höchste Zeit auch, dass die Kinder wieder zur Schule gingen.
Leichte Vorteile für Obama?
Sonst aber, meint Mustafa, sei die amerikanische Hauptstadt wieder ganz die alte. Das heisst, dass fünf Tage vor dem Urnengang am 6. November der Wahlkampf in alter Heftigkeit entflammt ist – heftig nicht zuletzt deswegen, weil landesweite Umfragen Barack Obama und Mitt Romney praktisch Kopf an Kopf zeigen. Mit leichten Vorteilen für den Präsidenten in wahlentscheidenden „swing states“ wie Florida, Iowa oder Ohio.
Lediglich die konservative „Washington Times“ prognostiziert Mitte Woche auf ihrer Frontseite unter Berufung auf den Befrager John McLaughlin einen erdrutschartigen „Triumph“ für Mitt Romney: „Die unentschiedenen Wähler sind nicht wirklich unentschlossen. Sie missbilligen mit grosser Mehrheit die bisherige Arbeit des Präsidenten und werden überwiegend gegen den Amtsinhaber stimmen." Auch Karl Rove, George W. Bushs umstrittener politischer Einflüsterer, sagt einen allerdings knapperen Sieg des Republikaners voraus: mit 51/52 zu 49/48 Prozent.
"Attack ads"
Noch aber werden die Unentschiedenen von beiden Parteien, vor allem während der Nachrichten, mit negativer Fernsehwerbung bombardiert. Da zeigt der eine Spot Mitt Romney als herzlosen Kapitalisten, der in seiner Zeit als Chef der Investmentfirma Bain Capital Firmen geschlossen und Leute auf die Strasse gestellt hat. Eine andere Werbung wirft Barack Obama vor, in den vier Jahren im Weissen Haus komplett versagt und keines seiner hochtrabenden Versprechen eingelöst zu haben. Zumindest für einen aussenstehenden Beobachter scheinen sich die „attack ads“ in ihrer Wirkung gegenseitig aufzuheben.
Dass indes, wie der republikanische Herausforderer in einem Spot betont, Amerika „die Hoffnung der Welt“ sei, scheinen nach Hurrikan „Sandy“ Hausbesitzer im Quartier Breezy Point in Queens (New York) beherzigt zu haben. Sie hissen, wie ein Zeitungsfoto zeigt, in den Ruinen ihrer abgebrannten Häuser trotzig die amerikanische Flagge: „This land is your land, this land is my land… .“
Ein Präsident in Aktion
Bisher hat der „Supersturm“, dessen wirtschaftliche Schäden vorerst auf gegen 50 Milliarden Dollar geschätzt werden, neben aller Tragik aber auch etliche positive Berichte gezeitigt: vom unermüdlichen Einsatz der Retter über nachbarschaftlichen Support bis hin zur Einsicht von Politikern wie Chris Christie, dem republikanischen Gouverneur von New Jersey. Das Schwergewicht hat zum Entsetzen seiner Parteikollegen vor laufenden Fernsehkameras vorbehaltlos Barack Obamas Hilfsbereitschaft gelobt. Der Präsident erwiderte umgehend das überparteiliche Kompliment und liess vom Sturm Betroffene in Brigantine wissen, ihr Gouverneur arbeite Überzeit, um sicherzustellen, dass möglichst rasch wieder Normalität einkehre.
Daraus zu schliessen, dass sich deshalb das politische Klima in Washington DC in absehbarer Zeit normalisieren könnte, ist aber verwegen. Zweifellos aber hat Hurrikan „Sandy“ Barack Obama im Wahlkampf geholfen: Die Fernsehbilder zeigten einen Präsidenten in Aktion, bei der Arbeit. Und sie demonstrierten, dass in Zeiten der Not die amerikanische Regierung, aller Verteufelung von Seiten der Republikaner zum Trotz, sehr wohl eine wichtige Rolle spielen kann und spielt.
Und die Latinos?
Auf jeden Fall erinnerten Anhänger Barack Obamas Mitt Romney (und alle Wähler) genüsslich daran, dass der Herausforderer im Wahlkampf die Verkleinerung oder gar die Abschaffung der nationalen Katastrophenhilfeagentur (FEMA) gefordert habe. Was den FEMA-Chef unter George W. Bush, der bei der Überschwemmung in New Orleans so kapital versagt hatte, aber nicht daran hinderte, den angeblich mangelnden Einsatz des Präsidenten zu kritisieren. Bush Jr. hatte seinen Katastrophenhelfer 2005 wider alle Fakten ausdrücklich gelobt: „Heck of a job, Brownie.“
Gewonnen aber hat Barack Obama dank der jüngsten „Oktober-Überraschung“ in Form eines Unwetters noch lange nicht. Vor allem dann nicht, wenn Latinos, was das „Wall Street Journal“ für möglich hält, nicht in so grosser Zahl für den Präsidenten stimmen werden wie noch vor vier Jahren: „Die Wahl könnte von der Latino-Stimmbeteiligung abhängen.“
Obama, so das Blatt, sei auf die Stimmen der Latinos angewiesen, weil sich Umfragen zufolge weisse Wähler zunehmend von ihm abwenden würden. Dieser Einschätzung stimmen selbst demokratische Befrager wie Peter Hart zu: „Sie (die Latinos) sind zentral, weil sie in Staaten zentral sind, die zentral sind.“ So einfach können amerikanische Wahlen sein.