Masud Barzani, der langjährige Präsident der Regierung irakisch Kurdistans (offizieller Name ist KRG für „Kurdish Regional Government“), ist zurückgetreten. Er schrieb einen Brief an das kurdische Parlament in Erbil, das in geheimer Sitzung tagte. Darin erklärte er, dass er auf den 1. November demissioniere.
Eigentlich wären am 1. November neue Parlaments- und Präsidialwahlen in Kurdistan fällig gewesen. Doch diese wurden angesichts des schweren Rückschlags, den Kurdistan erlitten hatte, auf unbestimmte Zeit verschoben.
Fehlschlag eines politischen Abenteuers
Masud Barzani war der Hauptverantwortliche für die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit irakisch Kurdistans. Dieses Referendum hätte die Position Kurdistans in den Unabhängigkeitsverhandlungen mit Bagdad stärken sollen Doch das Gegenteil trat ein. Das Plebiszit führte zu einer schwerwiegenden Niederlage der kurdischen Peschmerga.
Nach der Abstimmung entriss die irakische Armee den Kurden den grössten und wichtigsten Teil der umstrittenen Gebiete. Dabei handelt es sich um Territorien, die die Kurden nach dem Zusammenbruch der irakischen Armee im Juli 2014 besetzt hatten. Es gelang ihnen damals, diese Gebiete zu halten und sie gegenüber den anstürmenden IS-Milizen in oft verlustreichen Kämpfen zu verteidigen.
Hoffnung in nichts aufgelöst
Besonders schmerzlich für die Kurden ist der Verlust der Millionenstadt Kirkuk, die sie gerne das „kurdische Jerusalem“ nennen. Die Ölfelder rund um Kirkuk waren die wichtigste wirtschaftliche Grundlage für die Existenz des erhofften unabhängigen kurdischen Teils auf irakischem Gebiet.
Augenzeugen berichten, kurdische Männer und Kämpfer seien nach dem Verlust Kirkus in den Strassen in Tränen ausgebrochen. Ihre Hoffnung auf einen eigenen kurdischen Staat hatten sich plötzlich in nichts aufgelöst.
Kaum Widerstand der Peschmerga
Die Niederlage löste auch eine grosse Fluchtwelle aus. Tausende Kurden flohen aus Kirkuk und anderen Regionen, die jetzt von der irakischen Armee besetzt wurden. Ziel war die Stadt Erbil. Die Angst vor den irakischen Regierungstruppen schien nicht unbegründet. Ein Teil dieser Truppen besteht aus schiitischen Volksmilizen. Laut Gerüchten haben einige von ihnen kurdische Häuser angezündet und geplündert.
Kurz nach der Niederlage bezeichnete Barzani einige Peschmerga-Kämpfer als „Verräter“. Sie hätten ihre Positionen vor der anstürmenden irakischen Armee kampflos geräumt und so die Niederlage verschuldet. Sowohl die Peschmerga der „Kurdisch Demokratischen Partei“ (KDP) als auch jene der „Popular Union of Kurdistan“ (PUK) haben keinen energischen Widerstand geleistet.
Zwei Zonen, zwei Armeen
Der nach Unabhängigkeit strebende irakische Kurdenstaat hat zwei Armeen. Allein dies schon weist auf eine entscheidende politische Schwäche Kurdistans hin. Das autonome Gebiet besteht aus zwei Zonen:
- In der nördlichen Zone regiert die Barzani-Familie mit ihren Klienten, Anhängern und Parteigängern. Sie stützt sich auf die „Kurdisch Demokratische Partei“ (KDP).
- Im Süden dominiert die Talabani-Familie. Zentrum ihres Einflussgebiets ist die Stadt Sulaimaniyya. Dort dominiert die „Popular Union of Kurdistan“ (PUK).
Die Oppositionspartei „Gorran“ (Wechsel) stützt sich auf keine Peschmerga-Kämpfer und kämpft gegen das Klientelsystem der beiden traditionellen Parteien. Bei den Wahlen 2009 hatte Gorran in der Sulaimaniyya-Provinz mehr Stimmen geholt als die PUK.
Die Rolle des iranischen Geheimdienstchefs
Die Teilung von Norden und Süden zieht sich wie eine Erblast durch die kurdische Geschichte hindurch. Sie hat mehrmals zu Kriegen zwischen den beiden Teilen irakisch Kurdistans geführt. Der letzte dauerte von 1994 bis 1996.
Kompetente Beobachter in Sulaymaniya versichern, Qassem Soleimani, der Chef des iranischen Geheimdienstes im Irak, habe sich kurz vor dem Plebiszit und vor dem irakischen Angriff in Sulaimaniyya befunden. Er habe, so hiess es, die PUK-Politiker und Bafel Talabani überzeugt, dass ein Widerstand gegen Bagdad aussichtslos und gefährlich sei. Bafel Talabani ist der Sohn des kürzlich verstorbenen irakischen Staatschefs Jalal Talabani. Dieser, Jalal Talabani, hatte zusammen mit Barzani die kurdische Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung in Gang gebracht. Später haben sich die beiden entfremdet.
Mit seiner Warnung stiess der iranische Geheimdienstchef auf fruchtbaren Boden. Die PUK hatte sich ohnehin gegen das Referendum ausgesprochen. Ihre Führer hatten erkannt, dass es zu Unzeiten gekommen war. Sie warfen Barzani vor, das Referendum benützen zu wollen, um sich weiterhin zum Staatschef wählen zu lassen.
Klienteldemokratie
Das kurdische Parlament tagte wohl deshalb in geheimer Sitzung, weil es vermeiden wollte, dass das Waschen schmutziger Wäsche in die Öffentlichkeit gelangte. Dass man unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Wunden leckte, weist auf die Schwächen der kurdischen Demokratie hin.
Diese Demokratie ist und wird es wohl noch lange bleiben, eine Klienteldemokratie. Einflussreiche Grossfamilien, um die sich Klientelen scharen, nehmen die Stelle von politischen Parteien ein. Die Klienten stimmen für ihre Anführer, und diese sorgen dafür, dass es ihren Anhängern gutgeht. Am deutlichsten zeigt sich dieses Bild in der Barzani-Familie. Sie stellte bis jetzt den Präsidenten, den Ministerpräsidenten, den Geheimdienstchef Kurdistans sowie mehrere der führenden Generäle der KDP-Peshmerga. Sie alle ernannten ihre Untergebenen und Beamten, die natürlich vor allem aus dem Barzani-Umfeld stammten.
Misst man dieses System an demokratischen Idealen, muss es als „korrupt“ bezeichnet werden. Die Betroffenen selbst, soweit sie zu den Klientelen gehören, sehen es jedoch eher als ihr gutes Recht, von der politischen Unterstützung, die sie ihrer Gemeinschaft und deren Anführern zuwenden, auch zu profitieren. Doch andere Klientelen unter anderer Führung sehen sich selbst als zu Unrecht benachteiligt.
Was macht Bagdad aus seinem Sieg?
Augenzeugen berichten, dass die Reaktion der kurdischen Bevölkerung auf den Verlust von Kirkuk jener glich, als die arabischen Staaten 1967 den Sechstagekrieg verloren hatten. Die Menschen waren damals vom gesamten politischen System enttäuscht. Wie sich jetzt die Enttäuschung in Kurdistan auswirken wird, ist unklar. Wird die Oppositionspartei Gorran an Boden gewinnen? Zu befürchten ist, dass ein Chaos ausbricht. Der Streit zwischen PUK und PDK könnte eskalieren.
Viel wird davon abhängen, wie sich Bagdad verhält. Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi hat energischer gehandelt, als dies viele Beobachter, und wohl auch Barzani und seine Helfer, erwartet hatten. Er begab sich persönlich zuerst nach Ankara, dann nach Teheran, um sich mit den beiden Nachbarstaaten, die ja auch von der Kurdenfrage betroffen sind, abzusprechen. Sofort befahl er die Sperrung der kurdischen Flughäfen für internationale Flüge. Die kurdische Erdölförderung wurde zwangsverwaltet.
Ultimatum an Barzani
In der Nähe der von Kurden beherrschten Gebiete befanden sich irakische Elitetruppen, die von den Amerikanern bewaffnet worden waren. Diese Eliteeinheiten hatten soeben den IS aus der Enklave von Hawije vertrieben. Al-Abadi benützte nun die Anwesenheit dieser Truppen als Drohkulisse und forderte Barzani ultimativ auf, die Volksabstimmung zu annullieren. Bagdad betrachtete das Referendum als Verstoss gegen die irakische Verfassung.
Barzani wies das Ultimatum zurück. Er soll nach Aussagen seiner Parteigänger damit gerechnet haben, dass die Iraker nicht angreifen würden. Sollten sie jedoch angreifen, so kalkulierte er, würden die Peschmerga solange Widerstand leisten, bis die internationale Gemeinschaft zugunsten der Kurden Druck auf Bagdad ausüben würde. Vor allem zählte er auf die Amerikaner, deren Waffen auf irakischer und kurdischer Seite zum Einsatz kommen. Doch Barzanis Rechnung ging nicht auf.
Im Schatten des kommenden Wahljahrs
Al-Abadi handelte auch unter Druck des Wahljahres 2018 oder 2019. Hätte er Kirkuk verloren, würde er wohl auch die Wahlen verlieren. Der radikal-schiitische und pro-iranische Flügel seiner eigenen Partei und die pro-iranischen Gruppen und Milizen aller anderen Parteien im schiitischen Süden des Iraks hätten ihm einen Verlust von Kirkuk nie verziehen.
Als die Kurdenkrise ausbrach, traten al-Abadis Konkurrenten unter der Führung des früheren Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki sofort als Scharfmacher auf. Im Parlament in Bagdad setzten sie einen Haftbefehl gegen Barzani und seinen Vizepräsidenten durch. Auch Fuad Masum, den kurdischstämmigen irakischen Staatspräsidenten, wollten sie unter Anklage stellen. Dies erstaunt umso mehr, als dieser der PUK angehört und sich gegen das Referendum und für Verhandlungen mit Bagdad ausgesprochen hatte. Nach Intervention von Ayatollah Sistani, dem höchstangesehenen schiitischen Geistlichen des Iraks, wurde die Anklage gegen Masum fallengelassen.
Annullierung des Referendums, dann Verhandlungen
Bagdad plant nun zunächst, die finanziellen Hebel anzusetzen, um die irakischen Kurden zu zwingen, das Referendum als „null und nichtig“ zu erklären. In Kurdistan herrscht bereits jetzt eine Finanzkrise. Ohne das Erdöl von Kirkuk ist irakisch Kurdistan nicht überlebensfähig.
Barzani hat noch vor seinem Rücktritt angeboten, das Referendum „einzufrieren“. Doch al-Abadi lehnte dies ab. Eine volle Ungültigkeitserklärung sei Vorbedingung für weitere Verhandlungen über die Zukunft Kurdistans, sagte er. Nach Paragraph 114 der seit 2005 geltenden irakischen Verfassung hätte bis zum Jahr 2007 ein Plebiszit in Kurdistan über die Zukunft der umstrittenen Gebiete stattfinden sollen. Dies ist nie geschehen. Ob es nun zustande kommt, müsste Gegenstand von Verhandlungen werden. Sollte es tatsächlich zustande kommen, würde das Plebiszit wohl nicht vor den nächsten gesamtirakischen Wahlen stattfinden.
Was geschieht mit der Peschmerga?
Bei den Verhandlungen ginge es vor allem darum, wie viel Autonomie die Kurden in ihren drei verbliebenen Provinzen erhalten sollen. Auch geht es um die Frage, wieweit die Kurden an den Erdöleinkünften innerhalb und ausserhalb Kurdistans beteiligt sein werden.
Eine entscheidende Knacknuss ist die Frage, was mit den kurdischen Truppen geschehen soll. Soll Kurdistan mit der Peschmerga weiterhin eine eigene Armee haben? Al-Maliki, der Vorgänger und heutige Rivale des Ministerpräsidenten, hatte seinerzeit erfolglos die Einverleibung der Peschmerga in die irakische Armee gefordert.
Al-Abadis Gratwanderung
Wenn der Ministerpräsident sich bereit zeigt, auf der föderalen Natur des irakischen Staates zu bestehen und die Kurden dementsprechend milde behandelt, läuft er Gefahr, auf Widerstand bei den radikalen Schiiten des Südens zu stossen. Manche von ihnen sind der Ansicht, auch sie, im Süden mit ihren eigenen, sehr bedeutenden Erdölvorkommen und ihren Sympathien für Iran und das dortige schiitische politische Regime, hätten ein Anrecht auf Autonomie.
Wenn der Ministerpräsident umgekehrt die Kurden unter zu viel Druck setzt, riskiert al-Abadi eine kurdische Guerilla im Stile der türkisch-kurdischen PKK, die nun schon seit 33 Jahren „Krieg gegen Ankara führt“.
Iranischer Einfluss
Was man heute bereits erkennen kann, ist der Umstand, dass die inner-irakischen Streitfragen dem iranischen Geheimdienstmann General Soleimani reichlich Gelegenheit bieten werden, sein Gewicht im Irak zur Geltung zu bringen. Was er will, ist klar.
Als al-Abadi Teheran besuchte, ergriff der Herrschende Gottesgelehrte Ali Khamenei die Gelegenheit, um zu erklären, nun, da der IS besiegt sei, sollten die Amerikaner ihre Soldaten aus dem Irak abziehen. Etwa 5’000 amerikanische Spezialisten arbeiten mit der irakischen Armee, um sie auszubilden, zu beraten und zu bewaffnen.
Zur gleichen Zeit erklärte Rex Tillerson, der amerikanische Aussenminister, die iranischen Truppen und Berater sollten den Irak nun verlassen. Die pro-iranischen Milizen sollten in die irakische Armee eingegliedert oder entlassen werden. Das Ansinnen Tillersons wies al-Abadi scharf zurück. Er sagte, dies seien irakische Angelegenheiten.
Zu den Weisungen Khameneis schwieg al-Abadi.