Kurz vor 12 Uhr am 14. Februar 2005 verliess der ehemalige libanesische Premierminister Rafik Hariri eine Parlamentssitzung und begab sich ins nahe gelegene Café Place de l’Étoile in Beirut. Mehrere prepay Mobiltelefone, alle zehn Tage zuvor innerhalb einer Zeitspanne von 30 Minuten in der nordlibanesischen Stadt Tripoli aktiviert, wurden an diesem Morgen zuerst von Sendemasten des Mobilfunknetzes in der Nähe von Hariris Residenz, später um das Parlamentsgebäude, geortet.
Hisbollahs Rhetorik: Widerstand gegen Israel
Eine Minute nachdem Hariris Konvoi um 12.49 das Café in Richtung Hotel St. George verliess, kontaktierte eines der Telefone aus der Nähe des Parlaments während fünf Sekunden ein zweites in der Nähe des Hotels. Eine Überwachungskamera filmte jetzt einen kleinen weissen Mitsubishi Lastwagen, der sich langsam vor das Hotel verschob und dort parkierte.
Nachdem die Mobiltelefone seit ihrer zeit- und ortgleichen Aktivierung während zehn Tagen ausschliesslich untereinander Kontakt gehabt hatten, an diesem Valentinstag noch insgesamt 33 Mal, verstummten sie alle um 12.53 und wurden seither nie mehr verwendet. Zwei Minuten später explodierte Sprengstoff im Inneren des Mitsubishi- Lastwagens in dem Moment, als Hariris Wagen vorbeifuhr.
Muqawama, Widerstand gegen Israel, ist der vielleicht zentralste Begriff in der Rhetorik der libanesischen Schiiten-Partei Hisbollah. Als im Juli 2010 der damalige Ministerpräsident Saad Hariri (der Sohn von Rafik Hariri) seinem Koalitionspartner Hassan Nasrallah mitteilte, dass Hisbollah-Mitglieder des Mordes an seinem Vater angeklagt werden könnten, soll er ihm angeboten haben, die Beschuldigten als abtrünnige Einzelgänger innerhalb der Shiiten-Partei zu betrachten. Der Hisbollah-Generalsekretär lehnte resolut jede noch so entfernte Beteiligung auch nur Einzelner seiner Bewegung ab und beschuldigte Israel des Mordes: Der Mossad sollte Hariri liquidiert haben um das libanesische Volk zu spalten und den Widerstand zu untergraben.
Saad Hariris Regierung zerbricht
Ende 2010 wurde die Anklage erwartet, die Spur der Mobiltelefone zur Hisbollah war bereits zu den Medien durchgedrungen. Nasrallah reagierte prompt: Zeitlich abgestimmt mit Premierminister Saad Hariris Ankunft im Weissen Haus traten in Beirut elf Minister, darunter die zehn der Hisbollah, aus der Regierung aus. Bereits das Gerücht der bevorstehenden Anklage hatte gereicht, um die libanesische Regierung zu zerbrechen.
Ende Juni übergab das Uno-Sondertribunal für Libanon (STL), 2006 vom Uno-Sicherheitsrat als Untersuchungskommission eingesetzt und seit 2009 in Den Haag beheimatet, die geheime Anklageschrift der libanesischen Regierung. Die Namen der vier Angeklagten erschienen aber sofort in der Presse.
Nasrallah Schwur
In einer Fernsehansprache anerkannte Nasrallah die vier Angeklagten als Mitglieder der Hisbollah „mit einem ehrenhaften Leumund des Widerstandes gegen die israelische Besatzung.“ Er bezeichnete jede Anklage des Tribunals als Angriff gegen seine Partei und schwor, die Angeklagten nie auszuliefern. 30 Tage hatte der libanesische Staat Zeit, die Angeklagten auszuliefern. Jetzt entschied sich das Sondertribunal, die Anklageschrift zu publizieren.
Die Anklage wirft Mustafa Badreddine und Salim Ayyash die Ausführung eines Terroraktes mit Sprengstoff, den Mord an Rafik Hariris und 21 weiteren Opfern, sowie den versuchten Mord an 231 Personen vor, die durch die Explosion verletzt wurden. Hussein Oneissi und Assad Sabra, ebenfalls libanesische Staatsbürger, sind der Beihilfe angeklagt. Gemäss der 47 Seiten langen Anklageschrift soll Badreddine für seine Beteiligung an Selbstmordanschlägen 1983 auf ausländische Botschaften in Kuwait zum Tod verurteilt worden sein, konnte im Durcheinander der irakischen Invasion 1990 aber aus der Haft fliehen.
Verdächtige Mobiltelefon-Ringe
Die Anklage basiert auf Indizien. Durch Auswertung der vom libanesischen Funknetz registrierten Mobiltelefone soll ein „koordinierter Einsatz der Mobiltelefone zum Durchführen des Mordanschlags“ nachweisbar sein. Es soll fünf Ringe von Mobiltelefonen für verschiedene Aufgaben der Planung und Ausführung des Attentats gegeben haben. Innerhalb eines Ringes wurde ausschliesslich untereinander kommuniziert. Verbunden wurden die Ringe durch Individuen, die mit verschiedenen Telefonen in mehreren Ringen kommunizierten. Vier dieser Ringe verstummten eine Woche vor, beziehungsweise nur Minuten vor und nach der Explosion und wurden seither nie wieder verwendet.
Die Anklage schreibt, es sei „angemessen zu schliessen, dass der Einsatz der Mobiltelefone [...] mit schuldloser oder zufälliger Kommunikation unvereinbar“ sei. Da einige der Mittäter zudem persönliche Handys für den privaten Gebrauch auf sich trugen, wollen die Fahnder des UNO-Tribunals durch örtliche und zeitliche Übereinstimmung der privaten und geheimen Nummern vier der Beteiligten erkannt haben. Unter anderem sollen die Telefon-Inhaber Hariri in den Monaten vor dessen Ermordung beschattet haben. Zudem seien viele der SIM-Karten unter falschen Namen gekauft, ort- und zeitgleich aktiviert, und innerhalb kurzer Zeiträume mit Kredit nachgeladen worden, was auf Koordination hinweise. Einige Nummern wurden angeblich am Ort und Zeitpunkt des Kaufs des weissen Mitsubishi, der den Sprengstoff transportierte, geortet.
Gefälschte Bekenner-Videos
Die Veröffentlichung der Anklage im Fall Hariri wirft viele Fragen auf. Erstens erwarteten viele Beobachter nach über sechs Jahren Ermittlungen eine gewichtigere Beweislast als die jetzt veröffentlichten Indizien, gerade weil die Spur der Mobiltelefone seit Jahren bekannt ist. Zweitens erscheint fragwürdig, ob Mitglieder einer erprobten und technisch versierten Organisation wie der Hisbollah sich mit groben Fehlern bei der Ausführung eines solch spektakulären Mordes überführen lassen würden.
Die Anklage behauptet, die Mörder hätten mit der Auswertung von Telefondaten gerechnet und deswegen absichtlich falsche Spuren in den Norden des Landes und zu sunnitischen Extremisten gelegt. In der nordlibanesischen Stadt Tripoli wurden mehrere SIM Karten aktiviert und der Täterwagen gekauft. Zudem wurden Reuters und Al Jazeera ein gefälschtes Bekennervideo einer fiktiven Gruppe namens „Victory and Jihad in Greater Syria“ zugespielt. Die Angeklagten Oneissi und Sabra sollen beim Transport des Videos geortet worden sein. Würden sich solch diabolisch handelnde Hisbollah-Agenten durch undisziplinierte Verwendung ihrer persönlichen Handys verraten?
Wie wird der Staat Libanon handeln?
Drittens ist ungewiss, inwiefern das Tribunal auf die Zusammenarbeit des libanesischen Staats zählen können wird. Zur Veröffentlichung der Anklageschrift kam es jetzt nur deswegen, weil die libanesische Regierung während 30 Tagen nicht im Stand war, die Angeklagten festzunehmen. Dabei könnten diese sich weiterhin ungehindert in Libanon aufhalten. Das behauptete jedenfalls einer von ihnen in einem (anonym gezeichneten) Interview mit dem Magazin TIME nur Tage nach Veröffentlichung der Anklage. Das UNO Sondertribunal für Libanon sei nicht glaubwürdig, sagt er, es gehe nicht um die Aufarbeitung des Mordes sondern einzig um die Schwächung der Hisbollah, des Widerstands.
Jetzt da sich die Anklage offiziell vorliegt: Werden der islamistischen Hisbollah solche pauschale Unterstellungen gegen das Uno-Tribunal weiterhin zur Selbstverteidigung reichen? Generalsekretär Nasrallah will am kommenden Freitag, dem letzten Tag des Fastenmonats Ramadan, zur Anklage Stellung nehmen.