„Wir Menschen sind keine geborenen Leser“, schreibt die renommierte amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf. [1] Die Sprache ist in unseren Genen verankert; das Lesen aber muss aktiv erlernt werden. Es kommt nicht von selbst. Wir werden dazu geführt und vielleicht auch verführt. Wie die 22-jährige afroamerikanische Dichterin Amanda Gorman. Von ihrer Mutter, einer Mittelschullehrerin, wusste sie um den Wert der Sprache. „Ich konnte beobachten, wie [sie] fähig war, junge Menschen durch Sprache zu stärken“, sagte sie. [2] Eine entscheidende Rolle spielte ihre Drittklasslehrerin: Sie las im Unterricht aus Ray Bradburys Roman „Löwenzahnwein“ vor. Fasziniert verschrieb sich das Schulmädchen dem „deep reading“, dem gehaltvollen Eintauchen in die gedruckte Welt der Texte. Das machte sie zur gefeierten Lyrikerin und auch zu einer wichtigen Stimme in der Welt der Politik. Biden bat sie nach Washington. Auf den Stufen des Kapitols trug sie ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vor und wurde als „literarischer Popstar“, so die FAZ, umschwärmt. Amanda Gorman: ein Kind des vertieften Lesens.
Digital oder print?
„Deep reading“ im Buch einerseits – oberflächliches Lesen am Bildschirm anderseits? Die dramatische Polarität ist schnell hergestellt und das Urteil auch rasch gefällt: hier das gelobte Printmedium, dort die bezweifelte digitale Form. Das gedruckte Buch erscheint dann wie ein Arzneimittel gegen all die Dämonen der digitalen Welt und die Folgen von Smartphones, Tablets und E-Reader: Das heisst auch gegen fragmentierte Lektüre, oberflächliches Lesen, flüchtiges Verstehen. Da ist das Loblied auf das klassische Buch und das „deep reading“ zügig angestimmt – als kantiger Kontrast zum digitalen Raum mit seinen verführerisch leichten Ablenkungen. Warum dieser Widerstreit?
Schweizer Schüler: schwach im Lesen
Der Antagonismus nährt sich wohl aus dem Umstand, dass die Lesefreude bei den Jugendlichen abnimmt – ebenso wie die Leseleistung generell. Sie sinkt seit Jahren. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland. Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler! [3] Das ist besorgniserregend.
Wir wissen es seit Jahren: Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt scheint sie nicht zu stören. Dabei gehört Lesen zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt.
Lesen mit Tablet – Lesen mit Buch?
PISA wäre ein Warnschuss. Doch die Verantwortlichen hören weg; sie kennen nur eines: Digitalisierung des Schulsystems. Darüber hinaus scheint Politik und Verwaltung in Bildungsfragen derzeit nicht viel einzufallen.
Von Interesse wäre doch die fundamentale Frage: Lesen wir mit Tablet und Smartphone anders als im gedruckten Buch? Was unterscheidet Bildschirm und bedrucktes Papier als Lesemedium? Und was heisst das für die Schule? Genau das wollten über 130 Wissenschafter aus mehr als dreissig Ländern wissen. Sie schlossen sich Ende 2014 zur Initiative E-READ zusammen. Ihr Ziel: die Entwicklung des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung interdisziplinär analysieren und sie problem- wie lösungsorientiert erforschen, im Kleinen, im Klaren. Vier Jahre später, Anfang 2019, publizierten sie ihr gemeinsames Manifest zur Zukunft des Lesens im Zeitalter des Digitalen, die Stavanger-Erklärung.[4]
Lesen muss gezielt erlernt und geübt werden
Die Grundeinsicht des internationalen Forscherteams klingt banal und wirkt doch nicht unumstritten: Die Wissenschafter begreifen die Digitalisierung als nicht umkehrbaren und gleichzeitig auch aussichtsreichen Entwicklungsschritt. Unabsehbar aber sind ihre Folgen; darum sei der wissenschaftliche Diskurs über die digitalen Technologien wichtig.
Der internationale Appell richtet sich nicht gegen die Digitalisierung, wohl aber gegen die verbreitete Annahme, sie böte eine einfache Lösung von Leseproblemen, die eigentlich schon immer bestanden haben. Die Botschaft der Leseforscher ist klar: Ein verständnisorientiertes und kritisch reflektiertes Lesen von digitalen Informationstexten muss bewusst erlernt und systematisch geübt werden – ebenso wie das Lesen gedruckter Texte. Das gehört zum elementaren Auftrag der Schule.
Das Üben reaktivieren
Üben ist unabdingbar: Je mehr wir etwas an Grundfertigkeiten im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir es üben, sagt die Gedächtnispsychologie. Und dazu gehört die Kulturtechnik des Schreibens wie des Lesens. „Schweizer Kinder lesen schlechter, weil die Schule das Üben vernachlässigt“, erklärte der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, Heinz Rhyn, die schwachen PISA-Resultate. [5]
Befunde aus vier Jahren Forschungsarbeit
Dazu ein zentraler Befund der Stavanger-Erklärung: Der Bildschirm ist dem Papier unterlegen, wenn es um das Verständnis umfangreicher Texte geht, insbesondere wenn der Zeitdruck beim Lesen steigt. Der Umgang mit Büchern sollte darum in der Schule gezielt geübt werden. Das fördert eine vertiefende Lesekompetenz; sie hilft auch am Bildschirm. „[…] der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale Technologien im Primarbereich [bleibe] nicht folgenlos“, warnen die Forscher. Sie verweisen auf eine mögliche „Verzögerung in der Entwicklung des kindlichen Leseverständnisses und der Entwicklung kritischen Denkens“.
Papier werde das bevorzugte Lesemedium für längere Texte bleiben; es begünstige ein „tieferes Verständnis“ und das „Behalten“ gegenüber dem „flacheren“, zum schnellen Überfliegen tendierenden Lesen am Bildschirm. [6] Bei narrativen Texten stellt die Studie indes keine Unterschiede fest.
Bedeutsam ist das vertiefte Lesen
Die Stavanger-Erklärung lässt sich als Friedensinitiative im Glaubenskrieg um die Digitalisierung der Bildung lesen. [7] Es ist der wissenschaftliche Appell an Schulen und Bildungspolitik für einen sorgsamen Umbau der Lesewelten im digitalen Zeitalter – mit dem gleichzeitigen Hinweis auf das Bedeutsame des vertieften Lesens. Das Forscherplädoyer setzt auf ein kluges Sowohl-als-auch. Beide Welten sind wichtig. Das Digitale kann das Analoge nicht ersetzen, aber ergänzen – als Kür; das Buch bleibt Pflicht.
Die digitalen Medien sind, unreflektiert übernommen, für ein „deep reading“ wenig geeignet, belegt die Stavanger-Erklärung. Gerade das aber muss die Schule lehren – mit einem systematischen Leseunterricht. Lesend Kohärenz herstellen ist anspruchsvoll und vielleicht so etwas wie „the Hill We Climb“.
[1] Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. München: Penguin Verlag, 2019, S. 10.
[2] Gian Andrea Marti: Junge Poetin stiehlt allen die Show. In: NZZ, 22.01.2021, S. 16.
[3] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.
[4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/stavanger-erklaerung-von-e-read-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html
[5] Alexandra Kedves: „Die Ablehnung des Drills war unheilvoll“. In: Tages Anzeiger, 07.12.2019, S. 7.
[6] Lothar Müller: Tiefe Sehnsucht. In: Süddeutsche Zeitung, 26.11.2019, S. 31.
[7] Fridtjof Küchemann: Wo stehen wir jetzt? In: FAZ, 24.01.2020, S. 11.