Er hasse, sagt Georg Gerster, das Wort Luftaufnahme. Es habe etwas Mechanisches, Technisches. Wie eine Automaten- oder eine Röntgenaufnahme. Lieber spricht er von Flugbildern. Solche kreiert nicht nur das Auge, da gestaltet auch die Seele mit. Sie haucht der Fotografie das Unverwechselbare ein, macht das Abbild zum Bild. Ein Satellit hat keine Seele, eine Drohne auch nicht, Georg Gerster aber - Ästhet, Forscher und Weltreisender - sehr wohl.
„Als Flugfotograf suche ich, was ich nicht verloren habe, und finde, was ich nicht suche“, schreibt der heute 88-Jährige im Vorwort seines 1985 erschienenen Bildbandes „Fundsachen“. Er schildert seine Vorgehensweise während inzwischen mehr als 3500 Flugstunden in über 100 Ländern, bei seinen „visuell aufregenden Gratwanderungen zwischen Information und Abstraktion“. Allein in Indien – anders als in China - ist es dem Fotografen nie gelungen, von der staatlichen Bürokratie eine Bewilligung für Flugbilder zu erhalten. Wieso nicht, bleibt Delhis Geheimnis.
Eine Auswahl seiner Fundsachen, 20 Werke aus den Serien „Un Petit Tour du Monde“ und „Paradise Lost“, die meisten im Format 100 x 150 cm, zeigt bis zum 4. Juni die Zürcher Galerie Fabian & Claude Walter. Die Galerie hat auch schon bedeutende Schweizer Fotografen wie Werner Bischof, René Burri oder Robert Frank ausgestellt. Als Kunstberater für die Basler Syngenta haben Fabian und Claude Walter mit Georg Gerster kooperiert und ihn schätzen gelernt.
Zu sehen sind in Zürich Flugbilder aus dem Iran, die in den 1970er-Jahren entstanden sind, unter ihnen jene fast monochromatische Fotografie des Grabes von Kyrus dem Grossen in Pasargad, jenes abstrakt anmutende Bild eines Trockenanbaugebietes in der Provinz Busher oder jenes Foto des sassanidischen Heiligtums von Takht-e Suleiman in der Provinz Aserbeidschan (siehe Bild am Anfang dieses Textes).
Dem Londoner „Guardian“ hat George Gerster 2011 verraten, das Luftbild von Takht-e Suleiman sei sein „best shot“. Er habe geweint, als er 1976 zum ersten Mal die Provinz Aserbeidschan überflogen habe. Statt salzverkrusteter Wüsten habe er eine Explosion von Grün entdeckt und inmitten des Grüns die heilige Stätte, zwei Tempelbereiche an einem See, der von heissen Quellen gespeist wird. Notabene: Im September ehrt die Islamische Republik Georg Gerster mit einer grossen Ausstellung im Kulturzentrum Niavaran in Teheran.
In den stimmungsvollen Räumen der Galerie an der Rämistrasse hängen zudem Flugbilder aus Äthiopien, Australien, China, Japan, Spanien und den USA, unter anderen jene dreidimensional wirkende Fotografie aus der Inneren Mongolei, die zeigt, wie Bewohner versuchen, den Vormarsch der Wüste Gobi mit einem Grüngürtel aufzuhalten.
Oder jenes rätselhafte, in der Diagonale aufgebaute Bild in Altrosa eines Lagerdamms im Westen Australiens.
In einem Interview mit SRF gesteht Georg Gerster, er habe in der Luft vor allem die Schönheit gesucht und andere Interessen wie etwa die Archäologie erst nur vorgeschoben. Doch die Suche nach Schönheit oben hat ihren Preis unten: die akribische Vorbereitung, das Einholen von Visen und Bewilligungen, die Abhängigkeit von Wetter und technischem Material, die Nervenanspannung, die Kosten, das Herumschlagen mit Versicherungen, das Verhandeln mit Redaktionen und Verlagen.
Und Schönheit ist mitunter nicht ohne Hilfsmittel zu haben, in Georg Gersters Fall nicht ohne einen Kreuzschraubenzieher, mit dem sich bei bestimmten Flugzeugtypen bei Bedarf Türen aushängen oder Fenster ausbauen lassen. Ohne dieses Accessoire am Taschenmesser, erzählt er, hätte er frühmorgens schon auf manchen Flug verzichten müssen, „in jenen köstlichen ersten oder letzten Minuten des Tages, während denen die niedrig stehende Sonne die Landschaft in Glanz und Gloria präsentiert“. Nicht auf allen kleinen Flugplätzen der Welt stehen Mechaniker früh auf.
Seit 53 Jahren geht der Winterthurer in die Luft auf der Suche nach Bildern, die über die pure Information hinaus Einsicht vermitteln und dank ihrer erhabenen Perspektive den Zustand der „condition humaine“ erahnen lassen. Kein Zufall, heisst Georg Gersters Bildband, der 1975 im Atlantis-Verlag erscheint, „Der Mensch auf seiner Erde – Eine Befragung in Flugbildern“.
Der Fotograf, fern der Aktualität, vermittelt keine Gewissheiten, sondern bloss Vorlagen, die der Betrachter erst deuten und einordnen muss. Er zeigt selektiv eine Realität, die erst lesbar wird, wenn sie in einen Kontext gestellt wird. Die Wirkung seiner Werke definiert Georg Gerster wie folgt: „Ich sehe meine besten Flugbilder als Starthilfen für Gedankenflüge. Das Flugbild ist ein Werkzeug des Nachdenkens: Aus der Höhe sieht man nicht nur, was ist, sondern ebenso, was sein könnte – das Inventar unserer Chancen.“
Dem Fotografen zufolge durchleuchten Luftbilder „die von Menschen geschaffenen Umwelten, machen die Intensität des ökologischen Gebens und Nehmens augenfällig, verfolgen des Menschen Gratwanderung zwischen Torheit und Tüchtigkeit, Bewältigung und Vergewaltigung, belegen seinen Konflikt zwischen dem Auftrag aus Blut und Bibel, sich die Erde, und der neu erkannten Notwendigkeit, der Erde sich selber zu unterwerfen.“
Die Aussage belegt, dass Georg Gerster nicht nur ein waches Auge hat, sondern auch einen ebensolchen Geist. Einen scharfen Intellekt, der schon früh vorwegnimmt, was heute als Folge des Klimawandel in aller Munde ist: „In der dynamischen Natur ist der Mensch ein Beweger unter andern – und das Luftbild von ihr lässt das Heimweh nach dem Paradies nicht zu, der Sündenfall ist allemal inbegriffen.“.
Georg Gerster schreibt so gut, wie er fotografiert, und er fotografiert so gut, wie er schreibt. Schreiben und recherchieren lernt der promovierte Germanist in den frühen 1950er-Jahren bei der „Weltwoche“, wo er unter Chefredaktor Manuel Gasser die Rubrik „Werkstatt des Wissens“ betreut. Da sich deren Beiträge oft nur unbefriedigend illustrieren lassen, macht er aus der Not eine Tugend und bringt sich selbst das Fotografieren bei. „The rest is history“, wie die Amerikaner sagen
1956 verlässt Georg Gerster die „Weltwoche“, wird freier Publizist und beginnt zu reisen. Erste Publikationen erscheinen, über die Sahara (1959), den Sinai (1961) und Nubien (1961), über Alaska (1961), Äthiopiens Felskirchen (1968) und „Äthiopien, das Dach Afrikas“ (1974). Im Laufe der Jahre folgen viele weitere Bildbände, zuletzt „Irans Erbe in Flugbildern“ (2009) und „Wovon wir leben“ (2013), der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur mit 50 Bildern zum Thema Welternährung.
1965 gehen Georg Gersters Bilder der aufwändigen Rettung der Felstempel von Abu Simbel in Oberägypten durch die Weltpresse. Ohne den Wiederaufbau auf einer Insel, 64 Meter höher, wären diese Bauwerke aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. nach dem Bau des Staudamms von Assuan für immer in den Fluten des Nasser-Sees versunken. Im Mai 1969 publiziert “National Geographic“ unter dem Titel „Abu Simbel‘s Ancient Temples Reborn“ eine Geschichte mit den Bildern von Georg Gerster. Es ist der Start einer langjährigen Kooperation mit dem legendären amerikanischen Monatsmagazin.
Kein Zufall, ist „Ramses“ auch das erste Bild, das Georg Gerster für seine Rubrik „Unesco Welterbe“ auswählt, die das „Journal21“ seit Mai 2012 publiziert: „Am 10. Oktober 1965, 6 Uhr 10, verlor Pharao Ramses sein Gesicht – wohl der spektakulärste Moment in der von 1963 bis 1968 dauernden Bergung der Felstempel von Abu Simbel am nubischen Nil. In einem Wettlauf mit der organisierten Sintflut hinter dem Hochdamm von Assuan wurden die Tempel in praktikable Happen zersägt und landeinwärts hochwassersicher wieder zusammengeklebt – ein technisches Bravourstück sondergleichen.“
Einem breiten Publikum in Erinnerung sind auch die Plakate, die Georg Gerster ab 1971 für die Swissair fotografiert. Unvergessen vor allem die erste Serie von 20 Plakaten, die er mit Emil Schulthess, selbst ein grosser Fotograf, und Art Director Fritz Girardin realisiert.
Die ersten acht Destinationen, für welche die Swissair so wirbt: Afrika, Nordafrika, die USA, die Philippinen, Argentinien, Brasilien, Kanada und Kalifornien. Zu diesen Sujets gesellen sich Europa, das Heilige Land, Hong Kong,, der Irak, Israel, Italien, das Heilige Jahr, die Schweiz und Westafrika
Die Plakate, im Offsetdruck hergestellt, tragen den von Rudolf Bircher gestalteten Schriftzug und das populäre Pfeilsignet, die seit 1951 unverwechselbar für die Marke Swissiar stehen. Die Erstellung der Bildvorlagen ist für Georg Gerster, wie er einräumt, ein Traumjob: „Ich hatte bei der Motivsuche freie Hand; zu berücksichtigen waren auch Destinationen, die nicht oder noch nicht zum Streckennetz der Gesellschaft gehörten.“
Die Schweizer, emotional mit „ihrer“ Swissair verbunden, danken es ihm, und bald hängen die Flugbildplakate landesweit in Schulen, Bibliotheken, Redaktionen, Reisebüros, Studentenbuden und Wohnungen. Sie verströmen, als Objekte des Fernwehs, einen Hauch von Weltläufigkeit in einem engen Land, so etwa das Poster der sich überkreuzenden Freeways in Los Angeles: Endstation Sehnsucht.
Für viele Nutzer, schreibt Georg Gerster 1975, sei das Flugbild als Forschungs- oder Lehrmittel Alltagskost und kein Anlass zu Gefühlsregungen. Für andere aber, wie für die Besucher seiner Ausstellungen, ist es „ein einzigartiges Vehikel für Staunen, Zorn, Freude, Ärger“, das sie nie kühl lässt: „Für den Augenmenschen ist es Nachhilfeunterricht, eine ungewohnte Schule des Sehens; dem besorgten Zeitgenossen hält es einen Spiegel vor, in dem er sich selbst als umweltbezogenes Wesen begegnet.“
Fabian & Claude Walter Galerie, Rämistr. 18, 8024 Zürich: „Georg Gerster – Unter von Oben/Below from Above“; Ausstellungsdauer: 13. Mai bis 4. Juni 2016; Öffnungszeiten: Mi, Do, Fr, 14.00 -18.30 Uhr; Sa, 12.00 – 16.00 Uhr und nach Vereinbarung