„Schon mit vierzig Jahren läuft man an Krücken.“ – So lautet eine schiitische Überlieferung. Auch die Islamische Republik Iran befinde sich im Jahr ihres vierzigsten Geburtstags in einem Zerfallsprozess, sagt einer ihrer Strategen. Der Gottesstaat ist an einem Scheideweg angelangt.
„Nicht wahrscheinlich, sondern sicher ist ihr Ende“: Wessen Ende hier vorausgesagt wird, ist die Islamische Republik Iran, und der Mann, der diese mutige Prognose wagt, ist ihr erster Präsident, Abolhassan Banisadr.
Die Islamische Republik feiert dieser Tage ihren vierzigsten Geburtstag, und ihr Ex-Präsident befindet sich seit fast 39 Jahren im Pariser Exil. Der 85-Jährige muss dieser Tage – wie viele der alten Zeitzeugen – viele Interviews geben: über das, was diese eigenartige Revolution eigentlich war, darüber, was aus ihr wurde, und vor allem darüber, wie es weitergehen wird. Alle diese meist älteren Herren äussern sich gern und ausführlich, mögen sie dies- oder jenseits der Frontlinien stehen.
Und es sind viele Fronten, die in diesen vierzig Jahren entstanden sind. Kein Wunder, dass die iranischen Medien und Webseiten seit Wochen voll von Berichten, Dokumenten und Interviews sind, in denen die Revolutionsgewinner und -verlierer zu Wort kommen und viele alte und neue Wahrheiten aus dunkler Zeit zu Tage fördern. Aufmerksame Historiker werden diese interessanten Erzählungen zu schätzen wissen.
Kein Mangel an Prognosen
Doch viel wichtiger als die Vergangenheit der Islamischen Republik sind ihre prekäre Gegenwart und ihre ungewisse Zukunft. Was die kommenden Wochen und Monate bringen werden, wissen wir nicht. Dabei mangelt es nicht an Prognosen: weitere Radikalisierung oder allmähliche Mässigung, schnelles Ende oder langsamer Zerfall – wer recht hat, werden wir in absehbarer Zeit erleben.
Doch was aus diesem Staat wird, ist nicht nur für die Iraner selbst wichtig, sondern für die gesamte Welt. Egal, wohin diese merkwürdige Republik auch gehen mag: Sie wird damit die Region und letztlich die ganze Welt verändern – so wie es in den letzten vierzig Jahren geschehen ist.
Bin Salman wünscht seine Kindheit zurück
Als Mohammad bin Salman, genannt MBS, der omnipotente saudische Prinz, im Oktober 2017 gefragt wurde, warum er Saudi-Arabien so schnell und so gründlich reformieren wolle, antwortete der junge Heisssporn, er wolle zurück zu der Zeit vor 1979. MBS, der heute alles Machbare und auch Makabre tut, um König zu werden. Warum will er so weit zurück? Weil sich das Jahr 1979 Saudi-Arabien und der gesamten islamischen Welt wie ein Trauma eingeprägt hat. Es war ein Jahr, in dem ein politisches Erdbeben die Macht vieler Königshäuser zu erschüttern drohte. Das Epizentrum dieses Bebens lag im Iran, wo eine Volksrevolution mit einem Ayatollah („Zeichen Gottes“) an der Spitze der Monarchie ein Ende setzte – eine Revolution, die nicht nur faszinierend, sondern sehr gefährlich war. Ihre Botschaft liess sich in einem Satz zusammenfassen: Der politische Islam kann die Welt verändern. Und er hat es getan. Grundsätzlich, dramatisch.
Sunnitische Immunität gegen schiitischen Revolutionsvirus
Die Mächtigen in anderen Hauptstädten mussten sich wappnen, Gefahr war im Verzug. Über das, was Saudi-Arabien in den vergangenen vierzig Jahren getan hat, um der Strahlkraft der iranischen Revolution zu begegnen, sind inzwischen so viele Bücher und Artikel geschrieben worden, dass man wahrscheinlich eine mittelgrosse Bibliothek damit füllen könnte. Es galt, die sunnitische Welt gegen den schiitischen Revolutionsvirus zu immunisieren. Mit Milliarden von Petrodollars und einer Armee von Propagandisten und Predigern machte man sich auf den Weg. Rund um die Welt entstanden religiöse Schulen, Moscheen und Stiftungen, deren Ziel die Verbreitung des saudischen Islam war.
Doch auch die Saudis schufen, gewollt und ungewollt, ihren eigenen – sunnitisch geprägten – politischen Islam, der mit spektakulären Gewalttaten auf die politische Weltbühne trat. Terrorgruppen entstanden, die die Welt verändern wollten. Al Qaida und der 11. September sowie die folgenden Kriege, der IS und die noch laufenden Kriege in Syrien, dem Irak und anderswo sind die Nachbeben der islamischen Revolution von 1979.
Nur in diesem Zusammenhang kann man verstehen, warum der machtbewusste saudische Kronprinz plötzlich in seine eigene Kindheit zurückkehren möchte. Richtig verstanden sagt er damit, dass er die saudische Unterstützung für diverse islamistische Gruppen und Einrichtungen rund um die Welt beenden wolle. Ob er das tatsächlich tun kann und wird, ist ein anderes – interessantes – Thema. Doch mit seinem Wunsch, in die eigene Kindheit zurückzukehren, spricht MBS ein bekanntes Geschichtsprinzip aus: Jede grosse Revolution verändert die Welt nachhaltig. So wie die französische und russische hat auch die iranische Revolution wenn nicht die gesamte, so zumindest die islamische Welt umgekrempelt. Und diese tiefgreifende Umwälzung ist noch nicht abgeschlossen.
Selbst die Revolutionsgarden sind nervös
Und was ist in der Heimat dieser Revolution heute, an ihrem vierzigsten Geburtstag, los? „Steht die Islamische Republik am Rand des Zerfalls?“ Diese Frage war vor zehn Tagen Titel eines langen Interviews der iranischen Nachrichtenagentur Tasnim. Um ihre wahre Brisanz zu verstehen, muss man wissen, dass Tasnim die Agentur der Revolutionsgarden ist; sie ist besser informiert und mächtiger als IRNA, die staatliche Nachrichtenagentur des Iran, die der Regierung untersteht. Ebenso brisant ist der Interviewte: der 60-jährige Soziologe Mohammad Reza Tadjik, der wichtige Posten und Positionen im Iran innehat, obwohl er den Reformern nahe steht. Der in Grossbritannien ausgebildete Professor gilt als anerkannter Stratege und war als Vizeminister im Geheimdienstministerium zuständig für psychologische Kriegsführung.
Tadjik, der für seine Offenheit bekannt ist, kommt gleich zur Sache. „Meiner Ansicht nach befinden wir uns in einer traumatischen Situation“, ist sein erster Satz in diesem Interview und er definiert sofort, was er mit traumatisch meint: „In einer solchen Situation werden die Seele, die Gefühle, die Gedanken und die Überzeugungen der Menschen mit Schmerzen und Leiden belastet, die sowohl von aussen wie von innen kommen. Die Gesellschaft gerät aus den Fugen, sie wird abnormal.“
Was aus dem Inneren heraus Schmerzen und Leiden verursache, so Tadjik, seien Korruption, Missmanagement, Fehlentscheidungen und falsche Strategien: All das habe Seelen und Gefühle der Menschen verletzt.
Der Stratege für psychologische Kriegsführung nennt ein weiteres Symptom der Krankheit: „Das zweite Problem ist, dass sich alle Autoritäten und Fähigkeiten als unfähig erweisen. Alles, was in der Vergangenheit das Tun und Lassen bestimmte, das Erlaubte und das Verbotene, hat inzwischen keine Gültigkeit mehr: nicht nur im Privaten, sondern in der Gesellschaft“, sagt der Soziologe, und kommt zu einem beängstigenden Befund: „Die iranische Gesellschaft befindet sich im Zerfall, in einem Zustand, in dem die Vergangenheit im Sterben liegt und die Zukunft nicht entstehen kann, auch die Reformfähigkeit nicht“, sagt der einstige Berater des Reformpräsidenten Mohammad Khatami.
„Völker der Welt …“
Ob Zerfall, den viele befürchten, oder Reform, die sich nicht wenige erhoffen, oder der Aufstand der Unzufriedenen, wie ihn US-Präsident Donald Trump mit seinen Sanktionen bewirken will: Was demnächst im Iran auch passieren, wohin dieser Staat auch gehen mag, er wird wie vor vierzig Jahren wieder die Region mit sich in einen ungewissen Strom der Veränderung ziehen. Er wird, wie einst, die Welt verändern. Doch weder Trump und seine Verbündeten, die glauben, eine Strategie gegen den Iran gefunden zu haben, noch Europa, das um eine definierbare Diplomatie ringt: Niemandem kann gleichgültig sein, wie der künftige Weg der Islamischen Republik aussieht.
„Ihr Völker der Welt, schaut auf …“ den Iran, möchte man den legendären Satz von Ernst Reuter abändern. Einst wollte der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin mit diesem Appell der Welt das Schicksal Berlins verdeutlichen und sagen, was mit Berlin geschehe, müsse die ganze Welt interessieren. Nicht viel anders ist es mit dem heutigen Iran.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal