Ein 18-jähriger Tschetschene, am Spätnachmittag des letzten Schultags vor den Herbstferien, schlachtet in einem nordwestlichen Pariser Vorort einen Geschichtslehrer auf dessen Nachhauseweg ab wie ein Tier, enthauptet ihn mit seinem 30 Zentimeter langen Fleischermesser, fotografiert die Szene und stellt sie ins Internet, bevor er von der Polizei erschossen wird.
Zehn Tage später: Ein 21-jähriger Tunesier dringt um 9 Uhr morgens in die Basilika im Zentrum von Nizza ein und ersticht den Küster sowie eine 70- und eine 40-jährige Frau. Er wird von Polizeikräften angeschossen, und während ihm Sanitäter erste Hilfe leisten, krakeelt der junge Mann, Gott sei gross.
Drei Stunden später, in Lyon, verhaftet die Polizei, nach mehreren Notrufen, einen 24-jährigen Afghanen, der mit einem Fleischermesser fuchtelnd durch die Strasse lief.
Affront
Der 18-jährige Tschetschene war als Kind mit seiner Familie nach Frankreich gekommen, hat hier die Schule besucht, war als politischer Flüchtling anerkannt und hatte nur wenige Wochen vor seiner Greueltat aus Anlass seiner Volljährigkeit eine Aufenthaltsgenehmigung für zehn Jahre erhalten.
Der 21-jährige Tunesier, der Täter von Nizza, war als Bootsflüchtling erst vor knapp 2 Monaten in Lampedusa aufgenommen worden und lebte seit rund vier Wochen illegal in Frankreich.
Der 24-jährige Afghane in Lyon gab an, sein Asylbewerben sei abgelehnt worden, dafür habe er sich mit dem Messer rächen wollen.
Kein Wunder, wenn jetzt in den Köpfen vieler Franzosen der Gedanke umgeht, wonach hier drei junge Männer, die in Frankreich Schutz gesucht und zum Teil auch gefunden hatten, dem ganzen Land einfach mal gründlich den Stinkefinger gezeigt hätten.
Drei Fälle innerhalb von zehn Tagen, die das ganze Land aufwühlen, besonders die grausige Hinrichtung des Geschichtslehrers in der Pariser Vorstadt Conflans-Sainte-Honorine.
Der 49-Jährige hatte wenige Tage zuvor in einer Schulstunde zum Thema Meinungsfreiheit und Recht auf Blasphemie in einer Klasse von 14-Jährigen neben anderen Dokumenten und Illustrationen auch kurz die Mohammed-Karikaturen gezeigt.
Der fundamentalislamistische Vater einer Schülerin, die während der besagten Schulstunde selbst nicht mal anwesend war und deren Tante vor sechs Jahren in den Dschihad nach Syrien gezogen war, startete daraufhin im Internet eine wüste Hetzkampagne gegen den Lehrer. Der Mann sei ein Schurke und müsse umgehend aus dem Schuldienst entfernt werden.
Das Resultat nach einer knappen Woche: ein 18-jähriger Tschetschene fühlte sich berufen, «den Propheten zu rächen», liess sich von Freunden an einem Freitagnachmittag aus seinem 60 Kilometer entfernten Wohnort an den Tatort chauffieren, kaufte auf dem Weg noch kurz die Tatwaffe und hatte, wie auch immer er dazu kam, ein paar Hundert Euro in der Tasche, die er Schülern anbot, damit sie ihm sein Opfer zeigen. Und einige Schüler taten das und nahmen das Geld.
Islamistischer Low-Cost-Terrorismus
Diese Art von individuellem Low-Cost-Terrorismus der Islamisten, der sich in Frankreich, wenn auch oft weniger dramatisch, nicht erst seit 14 Tagen breit gemacht hat, scheint, wenn nicht alles täuscht, eine beachtliche Tiefen- und Schockwirkung in der Bevölkerung zu haben, zumal Tatort und Tatzeit bei diesen Anschlägen zumeist auch noch einen beachtlichen Symbolwert haben: Kirchen, eine Schule, das ehemalige Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo vor einigen Wochen oder das Privatdomizil eines Polizistenehepaars bereits vor drei Jahren.
Diese Serie von individuellen Terrorakten der Radikalislamisten in den letzten Jahren, die weit länger ist als die drei hier beschriebenen Fälle, vermittelt auch den Eindruck, dass Ähnliches jederzeit, fast überall und immer wieder von neuem geschehen kann. Dabei wird auch zusehends offensichtlicher, dass der Staat, bei allen Anstrengungen, die seit den Attentaten 2015 in Sachen Terrorabwehr unternommen wurden – im Schnitt wird pro Monat ein Terroranschlag vereitelt – schlicht hilflos ist gegen Täter, die weitgehend alleine handeln.
Symbol der Schule
Mehrere Freunde und Bekannte hier in Frankreich sagen, das Abschlachten des Geschichtslehrers Samuel Patty, dem heute um 11 Uhr in allen Schulen des Landes mit einer Schweigeminute gedacht wurde, habe sie fast noch schlimmer getroffen als der Anschlag auf Charlie Hebdo vor bald sechs Jahren. Ein 18-Jähriger, der ausgerechnet einen Lehrer auf diese Art meuchelt! Das will und kann in keinen Kopf.
Auch wenn man im Ausland darüber schmunzeln mag, in Frankreich ist die Schule – so gross ihre Probleme auch sein mögen – nun mal immer noch etwas Heiliges und Unantastbares. Nach weit verbreiteter Auffassung sind Lehrer oder Lehrerinnen, weit mehr als die Eltern, diejenigen, die Kinder und Jugendliche zu mündigen, kritischen und aufgeklärten Bürgern der Nation machen und sie für ein friedliches Zusammenleben im Geist der Werte der Republik wappnen sollen. Und deswegen sitzt der Schock über die Horrortat in der Nähe der Mittelschule von Conflans-Saint-Honorine ganz besonders tief.
Darüber hinaus macht sich das Gefühl breit, dass die französische Gesellschaft derzeit gleich an mehreren Ecken auseinanderbricht. Die Mischung aus Erschöpfung angesichts von Covid-19 und des zweiten Lockdowns, aus der enormen ökonomischen und sozialen Krise, die da heraufzieht und aus zunehmender Verunsicherung und Wut auf Grund der jüngsten Terroranschläge, enthält eine gewaltige Menge Sprengstoff.
Verantwortung der Linken
Die jüngsten Terroranschläge innerhalb weniger Tage haben in Frankreich ein weiteres und nicht ganz neues Problem an den Tag gebracht. Wohldenkende Linke haben hierzulande seit fast zwei Jahrzehnten die Gefahr des radikalen, fundamentalistischen und politischen Islamismus permanent heruntergespielt. Haben gleichzeitig die Augen verschlossen vor dem Entstehen von autoritären, machistischen Parallelgesellschaften, besonders in den Vororten französischer Grossstädte, wo in einem schleichenden Prozess die Gesetze der Religion nach und nach mehr galten als die Gesetze der Republik und in so manchen Fällen nicht mehr die Lehrer, sondern finstere Hassprediger zur moralischen Autorität für die junge Generation geworden sind. Nicht zufällig sind seit zehn Jahren gerade aus Frankreichs Vorstädten am meisten junge Männer und Frauen in den Dschihad nach Syrien und in den Irak, gezogen, mehr als 2000.
Immer wieder ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass diese Entwicklung, bis hin zu Terrorakten, von Vertretern der linken Szene und Teilen des intellektuellen Establishments erklärt und quasi entschuldigt wurden, mit den Argumenten: soziale Misere der Vorstadtjugend mit Migrationshintergrund und Kolonialvergangenheit Frankreichs. Islamisten und Integristen wurden allzu gerne als Opfer einer ungerechten Welt verharmlost.
Boualem Sansal
Dabei kann man schon seit Jahren aus dem nordafrikanischen Raum, etwa aus Algerien, deutliche Kritik an der Blauäugigkeit der europäischen Linken vernehmen angesichts der islamistischen Gefahr. Ebenso die Klage von vielen aufgeklärten Algeriern, die sich in ihrem Kampf gegen den mörderischen Islamismus in den 90-er Jahren mit rund 100’000 Toten von der europäischen Linken weitgehend im Stich gelassen fühlten.
Der grosse algerische Schriftsteller, Boualem Sansal – u. a. mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet – verzweifelt schon seit Jahren daran, dass die berühmte «politische Korrektheit» die westlichen Demokratien daran hindert, den Charakter des politischen Islamismus klar zu erkennen und auch zu benennen. Denn, um Camus zu zitieren: «Dinge schlecht oder falsch zu benennen, vermehrt das Unglück in der Welt», so Sansal.
Nach der grausamen Hinrichtung des Lehrers in Conflans-Saint-Honorine appellierte er in mehreren Interviews und Artikeln, sich in Europa endlich bewusst zu werden, dass der politische Islamismus, der die Macht übernehmen möchte, einen Guerilla- Krieg gegen die Demokratien führt und es für diese radikalen Islamisten nur zwei Optionen gibt: entweder zwinge ich euch meine Ideen auf und ihr tretet zum Islam über, oder ich liquidiere euch und setze mich an eure Stelle.
Auch Frankreichs Muslime gefordert
Es wäre gut, wenn in dieser aufgewühlten Stimmung in Frankreich endlich auch dem Letzten klar würde, dass dieser verlogene, totalitäre, faschistische und Menschen verachtende Islamismus eindeutig eine politische Bewegung ist, mit einer Ideologie des Hasses als Fundament. Der blanke Hass auf Andersgläubige, besonders Juden, auf demokratische Grundprinzipien, auf Gleichheit von Mann und Frau, auf Homosexuelle, auf die Gedanken der Aufklärung, auf jede Art von Humor oder auf die Freiheit von Kunst.
Und es wäre gut, wenn man endlich – und diesmal wirklich – ein echtes Aufbäumen der grossen muslimischen Gemeinde in Frankreich gegen den politisch-radikalen Islamismus erleben würde. Es scheint höchste Zeit, dass die rund sechs Millionen Muslime im Land klar Farbe bekennen und Verantwortung übernehmen, als französische Bürger zu Hunderttausenden gegen den islamistischen Horror zu demonstrieren.
Frankreich erwartet eine Art Aufschrei von ihnen. Kommt er nicht, besteht die Gefahr, dass mit zunehmender Dauer und weiteren Anschlägen jeder Muslim im Land verdächtig wird. Wie bisher einfach zu sagen, diese Attentate hätten mit dem Islam nichts zu tun, reicht bei weitem nicht mehr aus. Denn ob es gefällt oder nicht, die islamistischen Attentäter säen nun einmal Furcht und Hass im Namen des Islam.