Es ging, seit das Schreiben sich von der Kaligraphie auf bearbeiteten Tierhäuten hin aufs Papier entfernte und dann in den Druck ging: Es ging Autoren immer um den Markt, in den letzten 500 Jahren.
«... und das Buch gelangte in meine Hände, als ich schon erschöpft und so sehr noch beschäftigt war, das fertigzustellen, was für die nächste Buchmesse vorbereitet wurde. Dafür gibt es in Basel zuverlässige Zeugen, falls mir jemand nicht glaubt. Und doch schien es mir richtig, einen, wenn auch in größter Eile verfassten Teil der Erwiderung zu dieser Frankfurter Messe herauszugeben, damit diese Leute ihren Triumph vor dem Sieg gemäßigter feiern ...» So war das damals, 1526, als Erasmus aus Rotterdam sich über Martin Luther massiv ärgern musste. Er las in der kurzen Zeit von 10 Tagen nicht nur Luthers Schrift «Vom unfreien Willen», die ihm «geschwätzig» erschien, sondern verfasste auch gleich seine Antwort («Hyperaspistes»). Die Messe zu Frankfurt entschied mit über Marktchancen bei den laufenden Debatten. In Klammer gesetzt: Luther blieb der Debattensieger, wohl zum Leidwesen der europäischen Geschichte. Mit Erasmus hätte vieles friedlicher verlaufen können, weniger eisenacherdeutsch- oder zürcherzwinglianisch-aufgeregt.) Frankfurt 2010 ist vorbei. Ein Sachbuchautor namens Sarrazin war dort, der in wenigen Wochen mit griffigen Vereinfachungen seines Buchs ein paar Millionen Euro verdient und Politiker ins Schwitzen gebracht hatte. Eine aus schwierigem Mitteleuropa stammende Schweizerin, in einem österreichischen Verlag erschienen, bekam den deutschen Buchpreis, und die Medienmaschine sorgt nun dafür, dass ihr Buch «Tauben fliegen auf», im Frühjahr mit geschätzten 1500 Exemplaren aufgelegt, sechsstellig verkauft wird. Aber das Debattengemurmel in Frankfurt ging um die Migration des Lesens, weg vom Papier.
Andere Messen spuren vor
Wir erleben gerade, dass ganz andere Messen über die künftigen Marktchancen von Lesestoff entscheiden. Die Elektronikmessen, jüngst die Internationale Funkausstellung in Berlin. Hektische Versuche, den Buchhandel der alten Welt auf Touchscreen umzurüsten. Über 500 Jahre lang war die Materialbasis für Leser die gleiche geblieben; Papier, Faden zum Heften, Leim, auch schmuckes Textil oben am Kapital … Gewiss, es gab kurze Aufregungen: Als Rowohlt mit den Taschenbüchern anfing, jammerten Konservative über das Ende der Kultur; das Buch sollte für sie fest gebunden bleiben. Als bei der ersten Brecht-Ausgabe die Klebebindung nicht hielt, frohlockten die Verteidiger der traditionellen Fadenheftung. Derzeit konzentrieren sich angstvolle Kulturbewahrer auf Schwachpunkte der ersten Reader. Dass sich seit einem Vierteljahrhundert schon mit der vordringenden Digitalisierung die Gerätschaften und Arbeitsprozesse für Verleger, Drucker, Buchbinder veränderten, konnte den Lesern egal sein. Sie profitierten von Innovationen, die den Buchpreis weniger steigen ließen. Und die Verlage verdienten am Rationalisierungspotenzial. Ganze Berufsgruppen wurden abgeschafft. Was Schriftsetzer gekonnt hatten, kam nun standardmäßig von den Autoren, erst auf Floppy, dann Diskette und CD, irgendwann als Attachment per Mail. (Den gefährlichen Gedanken, dass nun Autoren ihr Attachment nicht mehr unbedingt an einen Verlag schicken müssen, sondern ganz woanders hin, wo in Windes Eile ein E-Book daraus wird, lassen wir in diesem Abschnitt noch beiseite.) Die klammheimliche Digitalisierung des Lesestoffs geht nun zu Ende. Mit dem Wechsel zur digitalen Darstellung von Büchern (und Zeitschriften) verändern sich die alten Geschäftsmodelle. Buchhändler verlieren auf breiter Front; denn die Verlage bieten nun ihre ungedruckte Ware, beim Fachbuch auch in neuen Portionierungen, direkt oder über buchfremde Plattformen an. Den Verlagen steht ein Wandel ins Haus, den sie noch gar nicht zu Ende denken können. Und die Leser: Sie brauchen derzeit ein Gerät. Daran kann verdient werden, das haben ganz unterschiedliche Firmen bemerkt. Und mit dem Gerät wird – so hätten es die derzeitigen Player gern – darüber entschieden, in welchem Laden künftig eingekauft wird. Laden? Nicht mehr in den teuren 1A-Lagen der Städte. Gemeint sind E-Book-Shops, mit preiswerterer Logistik.
Geschäftsmodelle um Bücher geraten in Fluss
Es begann jenseits des etablierten Buchhandels. Die Phantasie für netzerfahrene Konsumenten entwickelt sich nicht im herkömmlichen Ladenbetrieb. Das Kindle vom mächtigsten Internethändler war vor zwei Jahren der Anfang. Der Anfang einer kurzen imperialen Phase, in der einzelne Großfirmen den künftigen Bezug von Lesestoff zu ihren Gunsten kanalisieren wollen. Die größte Buchhandelskette in den USA, Barnes & Nobel, zog nach und brachte mit ihrem Nook ein eigenes Lesegerät heraus; es sollte eine elektronische Fußfessel für Leser an die hauseigen vertriebenen eBooks werden. Ob der Verfall der B & N-Aktie mehr mit der teuren Geräteentwicklung als mit dem zurückgehenden Umsatz der Papierbuch-Filialen zu tun hat, ist nicht so recht deutlich. Die Nummer 2 in den USA, Borders, ist ab nächster Woche bereits einen Schritt weiter. Sie spekuliert auf einen mächtigen, unterschätzen Zusammenhang: Immer mehr Leser wollen eher schreiben als lesen. Borders also verkauft seinen Kunden ein Softwarepaket («BORDERS – GET PUBLISHED»), mit dem sie ihre Texte formatieren und über die Borders eBook-Stores und andere Großverteiler anbieten können. Eine Buchhandelskette wildert so in Bezirken einer Wertschöpfung, die bisher von Verlagen monopolisiert war.
Übergang zu Online, bei sinkendem Ladengeschäft In Europa geht es im Oktober noch nicht ums Publizieren ohne Verlage. Thalia zum Beispiel, Platzhirsch der Filialisten in Deutschland und seit 10 Jahren Aufkäufer und Verdränger von Buchhandlungen in Österreich und in der Schweiz. Mit Oyo, so heißt dieses eigene elektronische Kindel, sollen Kunden auf den E-Book-Shop von Thalia festgelegt werden. Heitere Gemüter sehen das Ganze als einen schweißgetriebenen Versuch der Marktsicherung; denn Thalia schließt die ersten Filialen in Deutschland und wies im ersten Halbjahr einen Umsatzrückgang aus. Die Filialisten können sich ausrechnen, dass der Umstieg der Leser auf digitalen Stoff einen sicheren Anteil ihrer bisherigen Bestseller-Umsätze vernichten wird. Bei jedem gedruckten dicken Buch von Stieg Larssons Thrillern blieben ihnen (von 23 € Ladenpreis) einst 10 Euro. Die E-Book-Version ist nun aber für weniger als 9 € zu haben. Und der Larsson-Verlag, Bertelsmann, bezifferte bereits eine Million verkaufte E-Books dieses Autors innerhalb eines Jahres. Dass eine Million nicht mehr gedruckter Bücher den Druckereien die Beschäftigungsquote mindern, klar. Gut möglich, dass die Papierhersteller ihre Wachstumszeit hinter sich haben. Kurzes Aufseufzen ertönt am Ende der Epoche des Dead-Tree-Books aus den Wäldern. Sie denken bei Thalia ohnehin anders – im Mutterkonzern Douglas gehen die Parfumgeschäfte ungebrochen gut. Ihren Oyo haben sie von Medion entwickeln lassen, in vielerlei Verkaufsketten ganz anderer Märkte aktiv, und dort wird Medion, unter welchem Namen auch immer, einen eigenen Reader anbieten. Auf ihm gibt es dann subito ebenfalls den Zugang zum Thalia-Shop.
Auch die Zwischenhändler versuchen sich zu retten
In den gleichen Wochen gab es einen (vorletzten) Versuch, die alte Struktur des Buchhandels mit der digitalen neuen Lieferwelt zusammenzuhalten. Die alte Struktur? Seit dem 2. Weltkrieg sah sie so aus: Läden vor Ort verkaufen Bücher, die sie zum größten Teil über hoch effizient arbeitende Zwischenhändler bezogen haben, welche ihrerseits zu Superrabatten bei den Verlagen einkauften. Es war, und ist immer noch, das schnellste und bestfunktionierende Vertriebssystem der Welt; unsere amerikanischen, französischen, englischen Freunde haben uns darum beneidet, einigermaßen fassungslos darüber, dass auch Provinzbuchhandlungen über Nacht Bücher besorgen konnten. Digitale Bücher aber sind tendenziell «in Echtzeit» zu besorgen, jenseits der bisherigen Läden. Auch die Zwischenhändler bangen um ihr Geschäft. Und deshalb übernimmt die größte deutsche Firma, Libri, die auch das Schweizer Buchzentrum kontrolliert, ein Lesegerät von Acer, das die Buchhändler nun ihren Kunden verkaufen sollen. Auf diesem Lumiread ist der Libri-eigene E-Bookshop bereits installiert. Und an jedem digitalen Buch, das sich der Kunde (Leser) künftig herunterlädt, verdient auch seine Lieblingsbuchhändlerin; – sie bekommt eher ein paar Cent als ein paar Euro, versteht sich.
Preiskämpfe zum Ende des Jahres hin Für alle, die sich nicht um die Rohstoffkriege in Afrika und die Arbeitsbedingungen der asiatischen Fertigungen kümmern – es ist das Hintergrundsflimmern für diese leisen Geräte – http://www.wiwo.de/unternehmen-maerkte/das-dunkle-imperium-hinter-iphone-ipad-und-co-444461/ – gilt als Nachricht dieser Wochen: Der Preiskampf bei den Readern ist eröffnet. Der Konzern der katholischen Bischöfe, Weltbild also, versucht seine Misere im Ladengeschäft mit einem Billig-Reader abzufedern: ein Cent weniger als 100 €. Und eines ist klar. Die Konkurrenz der Liefer-Plattformen von Amazon bis Libri, die den Lesern elektronische Fußfesseln anlegen wollen, kann nur kurze Zeit dauern. Es geht um schnellen Profit, solange sich für E-Books noch kein weltweit gültiges Format durchsetzt und der (über die neue Technik erst mal unmündig gewordene) Leser noch nicht leicht und autonom entscheiden kann, woher er sich den Stoff holt. Wie wir in fünf Jahren lesen: ist noch nicht entschieden. Wir? Sorry, ich meinte die netzaffinen Menschen unter 20.
Ob ich einen Reader habe? Nein. Noch nicht. Neulich beim Herbstfest im Ekkarthof (Lengwil) gab es neben Wildsauen-Wettrennen auch einen Bücherflohmarkt, und seither lese ich Rudyard Kiplings Erinnerungen, in der ersten Übersetzung, Scientia in Zürich, 1936. Einer, der nach einer Kindheit in Indien die täglichen Folterungen in einem englischen Privatheim überstand: weil er sich ins Lesen flüchten konnte.
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