Spitzenpolitiker befürworten plötzlich ein Burkaverbot, doch ein Gesetz führt nicht zum Verzicht auf erzkonservative Bräuche. Erfolgreicher wäre, Muslime zu überzeugen, das Gesicht zu zeigen.
Was stört
Wenn ich eine Frau mit einem verhüllten Gesicht sehe, mit einer Burka oder einem Niqab, stört mich das, denn ich möchte das Gesicht einer Person sehen, die mir entgegenkommt. Es gibt jedoch etwas, das mich noch mehr stört: das Verbot der Burka und des Niqab in einer Verfassung oder einem Gesetz.
Doch sogar der sozialdemokratische Zürcher Regierungsrat, Mario Fehr, hat letzthin seine Sympathie für das Burkaverbot ausgedrückt, das im September 2013 in der Tessiner Verfassung verankert wurde. Zu meiner Überraschung sind auch einige meiner sozialdemokratischen Bekannten einem Burkaverbot nicht abgeneigt. Ihre Begründung: „Es geht mir auf die Nerven, hier Frauen mit verhülltem Gesicht zu begegnen, denn ich will sehen, wer sich im öffentlichen Raum bewegt; wenn ich in ein muslimisches Land reiste, würde ich auch dessen Bräuche respektieren, und ich erwarte dasselbe von den Muslimen, die bei uns leben.“ Ich verstehe die Haltung meiner Bekannten, aber ich teile sie nicht. Dazu einige Erläuterungen.
Unverhältnismässigkeit
Erstens: Im Tessin sehe ich selten Frauen mit vollständig verhülltem Gesicht, und sofern ich welche sehe, handelt es sich um Touristinnen. Diese Feststellung gilt meiner Erfahrung nach für die ganze Schweiz, wenn wir auch in Touristenzentren wie Luzern und Zürich, aber vor allem in Interlaken, Genf und Lausanne häufiger auf Frauen mit verhülltem Gesicht stossen. Wegen dieser wenigen Frauen hätte man keinen besonderen Artikel in die Verfassung des Kantons Tessin schreiben sollen. Doch dieses unverhältnismassige Verbot ist von den Tessiner Stimmberechtigten mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen worden.
Zweitens: In der Schweiz leben wir in einer offenen Gesellschaft, und wir haben eine starke Identität; das hoffe ich jedenfalls. Ich bin einverstanden: Wir wollen die Augen und das Gesicht der Personen sehen, denen wir begegnen – auf der Strasse, am Arbeitsplatz, im Zug und im Bus. Jenen Frauen und ihren Männern, die in unserem Land leben, sollen wir zu verstehen geben, dass man bei uns in der Öffentlichkeit das Gesicht zeigt. Die Muslime, die hier wohnen, wissen zudem, dass sie unsere Gesetze zu beachten haben, da sie sonst eine Strafe zu gewärtigen haben. Niemand kann unsere Gesetze in Frage stellen mit dem Verweis auf das Familienrecht, das in erzkonservativen muslimischen Gesellschaften gilt.
Ein Verbot macht Frauen nicht freier
Wichtig sind auch Regeln, wie z. B. jene, dass man sich in der Öffentlichkeit mit unverhülltem Gesicht bewegt, oder dass man sich in bestimmten Situationen die Hand gibt. Diese Verhaltensregeln – praktisch von allen anerkannt – beruhen nicht auf einem Gesetz, sie sind vielmehr das Ergebnis eines Brauchs, hervorgegangen aus einem lang erprobten Zusammenleben. Deshalb scheint es mir nicht angemessen, eine Verhaltensregel durch ein Gesetz zu erzwingen. Ist es nicht besser, in unsere Überzeugungsfähigkeit zu vertrauen? Gesetze haben wir genug. Es ist vielversprechender, auf gegenseitigen Respekt und Verständnis zu setzen, um das Zusammenleben zu erleichtern. Wird der Ganzkörper- oder der Gesichtsschleier verboten, welcher der Ehefrau vom Mann aufgezwungen wird, wird die Frau nicht freier, und der Mann wird sein autoritäres Verhalten nicht ändern.
Verzichten wir also auf ein Gesetz, um gleichwohl zu erreichen, dass praktisch alle in der Schweiz wohnenden Musliminnen und die Mehrheit der Touristinnen ihr Gesicht nicht verhüllen. Versuchen wir den Männern und Frauen, die in erzkonservativen Gesellschaften aufgewachsen sind, zu erklären, dass der Gesichtsschleier und der Ganzkörperschleier den Grossteil unserer Bevölkerung irritiert.
Die vielen Politiker, Männer und Frauen, sogar Feministinnen, denen es gelungen ist, das Verbot von Burka und Niqab im Tessin durchzusetzen, möchten es jetzt auf das ganze Gebiet der Schweiz ausdehnen. Diese Schweizerinnen und Schweizer sollten den Dialog mit den Muslimen suchen. Sie könnten den Zuwanderern erklären, dass wir ihren Glauben respektieren und dass die Bundesverfassung jede Diskriminierung verbietet – auch im Bezug auf die religiösen Überzeugungen. Im gleichen Artikel 8 steht zudem: „Mann und Frau sind gleichberechtigt.“ Wir wollen die Muslime wegen ihres Glaubens nicht ausgrenzen, doch verlangen wir von den muslimischen Männern, dass sie die Gleichberechtigung der Frauen anerkennen. Das Gespräch wird nicht immer einfach sein, es braucht seine Zeit, bis eine Änderung der Mentalität heranreift. Geduld und grosser Einsatz sind gefragt, um die Aussprache mit Menschen einer andern Kultur in Gang zu bringen. Einfacher wird es, wenn man auch einen offenen Muslim, den man kennt, ins Gespräch einbezieht.
Misstrauen gegen die Freiheit
Doch haben wir Schweizer noch den Willen, unsere Werte zu verteidigen? Jene Werte des friedlichen Zusammenleben in voller Freiheit von Menschen verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen? Wenn ich Spitzenpolitiker höre, z. B. die Präsidentin der Liberalen, Petra Gössi, den Präsidenten der Christdemokraten, Gerhard Pfister, beginne ich zu zweifeln. Anstatt ihre Parteigänger und Wähler überzeugen zu wollen, sich nicht von illusorischen Vorschlägen blenden zu lassen, resignieren sie und unterstützen ein Burkaverbot auf eidgenössischer Ebene.
Offenbar glauben sie nicht mehr an die Kraft ihrer Argumente, die gegen ein Verbot sprechen. In diesem Zusammenhang scheint ihnen die Freiheit kein Wert zu sein, den sie sonst kraftvoll verteidigen. Die Unterstützung des unliberalen Vorschlags eines Burkaverbots durch bürgerliche Parteipräsidenten ist eine Ohrfeige für jeden liberalen Menschen, stehe er nun rechts oder links. Viele unserer Politiker scheinen zu mutlos und zu müde, um sich der Herausforderung zu stellen. Sie mögen nicht mehr für ihre Ideale kämpfen, um die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen, dass das Burkaverbot eine Scheinlösung ist. Wie enttäuschend!