Am 18. März 1990 stahlen zwei als Polizisten verkleidete Einbrecher aus dem Isabella Stewart Gardner Museum in Boston 13 Gemälde, darunter Vermeers „Das Konzert“ und Rembrandts einziges Seestück, „Christus im Sturm auf dem See Genezareth“. Der spektakuläre Raub wurde nicht aufgeklärt, die Bilder blieben verschwunden. Das Museum steht bis heute zum Geschehen und zeigt an den Wänden die leeren Gemälde-Rahmen, welche die Diebe zurückliessen. Was ist in der Erinnerung des Personals und der Museumsfreunde haften geblieben?
Rembrandt wie eine Tapete
Diese Frage stellt die französische Künstlerin Sophie Calle in einer ihrer Werkserien, die sie im Fotomuseum Winterthur zeigt. Sie fragte die Leute im Museum, was sie hier sehen. Sie notierte diese Erinnerungen und zeigt die in gepflegter Typographie gedruckten Texte neben Fotografien, auf denen von hinten die Auskunftspersonen zu sehen sind, wie sie die Rahmen betrachten. Die Auskünfte sind einfach. Bei Vermeer zitiert Sophie Calle einen Museumsbesucher: „In diesem leeren Rahmen sehe ich eine Frau, hochkonzentriert, die das Cembalo spielt. Eine Sängerin, die kurz davor ist, eine Note zu singen, steht ihr gegenüber. Ich höre die Musik.“ Zu Rembrandts Werk besagt eine Notiz: „Ich bin kein Kunstexperte, aber das ist von Rembrandt; es steht auf dem Rahmen. Und dieser Rembrandt sieht aus wie eine Tapete.“ Und „Ich sehe eine Bespannung, die ich nicht sehen sollte, und die nicht als Teil des Bildes gedacht war …“
Sophie Calle schafft ein bis ins letzte Detail der Präsentation durchgestaltetes Umfeld für ihre Überlegungen ganz unterschiedlicher Art: Welche Wirkung hat das abwesende Bild in unseren Köpfen? Wie steht es um die Qualität unseres optischen Gedächtnisses? Vermögen wir mittels unserer Sprache das wiederzugeben, was wir sehen, was wir gesehen haben, was wir uns in unserer Phantasie ausmalen? Was Sophie Calle uns in dieser Serie „Que voyez-vous?“ (2013) präsentiert, zielt ins Zentrum wahrnehmungstheoretischer Probleme, die unsere Beziehung zu unserem gesellschaftlichen Umfeld entscheidend prägen können.
Die entschwundene Erinnerung
Besonders deutlich wird das in der Serie „Detachment“ („Die Entfernung“, 1996). Auch da geht es um Verschwundenes und dessen Weiterleben in der Erinnerung. Dabei geht es aber nicht um Zufälle oder Raub, sondern um eine bewusste Manipulation: In der ehemaligen Sowjetischen Zone Berlins liess die Stadt nach der „Wende“ zahlreiche Embleme und Denkmäler aus der DDR-Zeit als „politisch unkorrekt“ oder als belastende Erinnerungen verschwinden. Ein Beispiel unter vielen ist das Sichel- und Hammer-Emblem am (inzwischen ebenfalls verschwundenen) Palast der Republik, ein anderes die riesige Lenin-Büste vor der Russischen Botschaft Unter den Linden, die unter einer Holzkiste versteckt wurde. Sophie Calle befragte auch hier Leute – und vernahm etwa über das Sichel- und-Hammer-Emblem: „Ich glaube, es war an einem Montagmorgen, in der Dämmerung. Sie haben es mit einer Brechstange heruntergerissen. Jetzt ist es verschwunden und damit auch die Möglichkeit, sich zu erinnern.“ Und zu Lenin: „Er fehlt mir nicht, aber ich fände es schöner, wenn er dort stehen würde. Sogar jetzt noch drehe ich immer meinen Kopf, wenn ich vorbeigehe, um zu sehen, ob er zurückgekommen ist … Vielleicht wollte Jelzin den Lenin nicht mehr sehen, also haben sie schnell eine Kiste darüber gemacht.“ Die gradlinige und einfache Strategie, die Sophie Calle anwendet, ruft den Betrachterinnen und Betrachtern komplexe politische Vorgänge so in Erinnerung, dass sie gewissermassen gezwungen werden, die schlichten Passanten-Aussagen weiterzuspinnen.
Was die Blinden sahen
Geht es in „Detachment“ um Politisches, so reisst die Künstlerin in anderen Serien existenzielle Abgründe auf. Sie zielt dabei auf Persönlich-Intimes und gibt ihm auf eindrückliche Weise Öffentlichkeit. Mit ihrem strengen Gestaltungswillen, der von der sprachlichen Formulierung über die Ästhetik der Fotografien bis zur Bearbeitung der Holzrahmen reicht, verhindert sie jeden Anflug von Peinlichkeit oder Indiskretion.
Deutlich wird diese Nahtstelle zwischen Privatem und Öffentlichkeit in den 1986 und 2010 entstandenen Serien, die von blinden Menschen handeln. Blind Geborene fragte sie nach ihrer Vorstellung von Schönheit, die durch Augenkrankheit blind Gewordenen nach ihrer Erinnerung ans letzte Bild, das sie sahen. Ein seit Geburt Blinder sagt: „Im Musée Rodin gibt es eine nackte Frau mit sehr erotischen Brüsten und einem fantastischen Hintern. Sie ist weich, sie ist schön.“ Sophie Calle zeigt das Porträt des Mannes und die Rodin-Skulptur. Ein anderer sagt: „Schönheit – die habe ich begraben. Ich brauche keine Schönheit. Ich brauche keine Bilder in meinem Gehirn. Da ich Schönheit nicht schätzen kann, bin ich immer vor ihr davongelaufen.“ Konsequenterweise gibt es dazu nur Porträt und Text, aber kein Bild. Ein Mann, der an einem Glaukom litt, erzählt von einem Arztfehler: „Der Arzt injizierte mir eine Lösung, um die Pupille zu vergrössern. Er muss die falsche Flasche genommen haben. Als ich aus der Praxis kam, war alles in Ordnung; ich ging auf den Bus zu und alles war verschwommen. Das Letzte, was ich sah, war der Bus, wie eine rote Wolke.“ Sophie Calles Bild dazu: ein unscharfer roter Bus. Aus diesen Serien sprechen Resignation und Trauer.
Die letzte Serie „Parce que“ (2018) handelt von der Motivation und nähert sich wieder einem eher traditionellen Fotografie-Begriff: Was veranlasst die Künstlerin, gerade dieses und nicht ein anderes Motiv zu fotografieren? Zu sehen sind schwarz verhängte Rahmen. Auf die Tücher sind in Weiss Texte gestickt. Ein Beispiel: „Parce qu’on m’apprend qu’elle est morte le jour de ces noces.“ Hebt man den schwarzen Vorhang, fällt unser Blick auf ein Grabdenkmal aus weissem Marmor. Es zeigt eine junge Frau im Brautkleid.
In dieser letzten Serie gibt Sophie Calle Einblick nicht in die Intimität andere Menschen, sondern in ihre eigene Seele. Sie zeigt uns, warum sie Kunst, warum sie gerade diese Kunst so und nicht anders macht.
„Prenez soin de vous“
Sophie Calle ist eine der profiliertesten Künstlerpersönlichkeiten Frankreichs. Die Konzeptkünstlerin, die sich der Fotografie, der Textarbeit und der Installation bedient, verfolgt ihre Recherchen konsequent und hartnäckig. Bedeutende Ausstellungen hatte sie in den USA oder in Japan. 2007 stand ihr der französische Pavillon der Biennale Venedig zur Verfügung. Auch da stand Persönliches – und dabei auch die Art und Weise, wie sich Kunst mit diesem Persönlichen beschäftigen kann – im Zentrum, und auch da suchte sie nach einer Verankerung dieses Persönlichen in einem grösseren gesellschaftlichen Kontext: Die Nachricht, mit der sich ihr Lebensgefährte von ihr trennte, bildete die Grundlage des Werks „Prenez soin de vous“. Sophie Calle erhielt die Nachricht der Trennungsabsicht ihres Partners per E-Mail, und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Nachricht schloss mit dem Satz „Prenez soin de vous“. Für ihren Beitrag in Venedig liess sie den Text der Trennungsmail von 107 Frauen interpretieren, darunter eine Richterin, eine Wahrsagerin, eine Psychoanalytikerin, eine indische Tänzerin.
Fotomuseum Winterthur. Bis 25. August. Zahlreiche Veranstaltungen. www.fotomuseum.ch
Die Ausstellung „Un certain regard“ ist eine Kooperation mit dem Kunsthaus Thun. Dort wird ab 7. September der zweite Teil unter dem Titel „Sophie Calle – Regard incertain“ zu sehen sein.