In diesen Tagen ist viel von „falscher Ausgeglichenheit“ die Rede, wenn es um die Berichterstattung über den US-Präsidentschaftswahlkampf geht. Der Begriff impliziert, dass Journalisten, dem Gebot der Fairness folgend, beide Seiten einer Debatte, einer Person oder eines Themas als gleichwertig präsentieren, obwohl die Fakten, wie etwa beim Klimawandel, mitunter eine andere Sprache sprechen. Im vorliegenden Fall wird der Vorwurf laut, die Medien würden kleinere Fehler Hillary Clintons mit grösseren Mängeln Donald Trumps gleichsetzen.
Jüngstes Beispiel ist die Berichterstattung über Clintons Lungenentzündung, die ihren Anhängern zufolge unverhältnismässig war, auch verglichen mit Trumps spärlichen Angaben über seinen Gesundheitszustand. Die Anhänger der Demokratin haben nicht Unrecht, zieht man in Betracht, wie mörderisch Präsidentschaftswahlkämpfe in den USA sind – so intensiv, dass gelegentlich auch Journalisten im Begleittross der Kandidaten der Erschöpfung nahe sind.
Als Hillary Clinton am Jahrestag von 9/11 in New York einen Schwächeanfall erlitt und strauchelte, war es Tag 518 ihrer Kampagne. Kommt dazu, dass sie 69, ihr Konkurrent 70 Jahre alt ist. Erstaunlich, dass Clinton und Trump angesichts ihres Alters und der Dauer des Wahlmarathons gesundheitlich nicht angeschlagener sind.
Es steht ausser Zweifel, dass Amerikas Medien, allen voran die Nachrichtenkanäle des Fernsehens, häufiger und länger über Donald Trump berichten als über Hillary Clinton. Die Fernsehsender bescheren dem Republikaner so unbezahlbare Gratiswerbung. Anders als Clinton kennt Trump keine Berührungsängste mit den Medien; der frühere Star des Reality-TV weiss Journalisten meisterhaft zu instrumentalisieren. Dagegen ist Clintons Zurückhaltung der Presse gegenüber angesichts ihrer jahrzehntelangen Präsenz im kalten Rampenlicht der Öffentlichkeit zum Teil nachvollziehbar. Jedenfalls kennt sie sexistische Vorurteile zur Genüge.
Kritiker „falscher Ausgeglichenheit“ gehen davon aus, dass es so etwas wie eine „richtige Balance“ gibt, ohne näher zu definieren, wie diese im Einzelfall zu erreichen wäre. „Richtige Ausgeglichenheit“ aber gibt es im Journalismus so wenig, wie es Objektivität gibt, absolut wahrheits- und wirklichkeitsgetreue Berichterstattung ohne Fehl und Tadel. Der Fernsehkanal Fox News, Donald Trumps Haussender, nennt sein Programm „fair und ausgeglichen“; in Realität ist Fox weder das eine noch das andere.
Umgekehrt hat die ultra-orthodoxe jüdische Wochenzeitung „Yated Ne’eman“ in Rockland County (New York) unlängst entgegen ihrer Tradition, keine Frauen abzubilden, eine Aufnahme publiziert, die Hillary Clinton zeigte, verdeckt zwar und nur am ausgetreckten Arm und der Frisur zu erkennen, aber zweifellos als Frau. Clinton so zu präsentieren, ist von Gleichsetzung noch weit entfernt, aber immerhin ein Schritt in Richtung Fairness.
Fraglos müssen Journalisten sich dagegen wehren, sich von den Kandidaten für ihre Zwecke einspannen zu lassen. Diesbezüglich werden sie Donald Trump gegenüber häufiger schwach als vis-à-vis Hillary Clinton. Sicher ist es auch vergnüglicher, über die kuriosen Extravaganzen des Republikaners zu spötteln, als nüchterne Programmvorschläge der Demokratin zu sezieren. Doch Spass (oder Profit) dürfen bei einer Wahl dieser Tragweite kein Gradmesser sein. Wie titelt „Der Spiegel“ in seiner jüngsten Titelgeschichte? „Es ist fünf Minuten vor Trump.“ Hillary Clintons Schwäche, so das Magazin, werde zur Gefahr für die Welt. Umso eher liegt es an den Medien, keine Schwäche zu zeigen. Und wenn es um Prinzipien geht, auch unausgeglichen zu kommentieren.