Choreographen arbeiten mit Körpern – mit den Körpern ihrer Tänzerinnen und Tänzer. Sie erzählen mit ihnen Geschichten. Mit ihnen und ihren Bewegungen können sie Emotionen zum Ausdruck bringen oder abstrakte Raum- und Zeitkunstwerke entstehen lassen.
Der amerikanische Choreograph William Forsythe, geboren 1949 (Foto: © Dominik Mentzos), Leiter des Frankfurter Balletts, ein fundamentaler Erneuerer der Tanzkunst, schlägt in seiner jüngsten Zürcher Arbeit andere Wege ein: Er arbeitet nicht mit Körpern und Bewegungen von Tänzerinnen und Tänzern, sondern mit Körpern und Bewegungen der Besucherinnen und Besucher der neuen Räume von David Chipperfield Architects im Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich. (Der Bau wurde am 25. April im Journal21 vorgestellt.)
Bis auf ganz wenige Ausnahmen sind diese Kunst-Räume noch ohne Kunst. Zu diesen Ausnahmen gehören die fest installierten Malereien von Robert Delaunay und das riesiges Mobile von Alexander Calder, ebenso die Wandmalerei, die Max Ernst 1934 für die Zürcher Corso-Bar geschaffen hat, und Lawrence Weiners ortsbezogen konzipierte Textarbeit „OVER & ABOVE“ im Treppenhaus zur Verbindung Altbau-Neubau. Die Beschriftungen der Räume sagen, was da künftig zu sehen sein wird – zum Beispiel die Sammlung Bührle, die Sammlung Hubert Looser, die Sammlung Merzbacher, Teile der hauseigenen Sammlung.
Skulpturales und Akustik
Die Räume sind bis zum 24. Mai fürs Publikum offen. Sie sind, obwohl die Sammlungen noch fehlen, weder ganz leer noch ohne Kunst. In einigen von ihnen richtete William Forsythe seine Installation „The Sense of Things“ mit acht an wunderschön gezimmerten Holzkonstruktionen aufgehängten Glocken aus Bronze und mit zwei Triangeln ein.
Nicht Klöppel schlagen die Glocken an, wie es üblich ist. Sie werden – nach einer eigentlichen Partitur mit klaren Zeitstrukturen – an der Aussenseite von elektronisch gesteuerten Hämmern angeschlagen. Ihre Klänge breiten sich durchs ganze Haus aus.
Hier sind sie so intensiv und laut, dass die von ihnen ausgelösten Vibrationen nicht nur hart ans Ohr dringen, sondern dass wir sie mit dem ganzen Körper spüren. Dort wiederum nehmen wir sie als sanftes Schwingen wahr, oder wir glauben, einem akustischen Dialog zwischen weit auseinanderliegenden Räumen zuzuhören. Sie mischen sich, je nach Standort und Bewegung des Besuchers im Raum, zu verschieden gefärbten Clustern oder Klangtrauben. Diese Vielfarbigkeit hängt mit dem Reichtum an Obertönen zusammen, der die Glocke, ein archaisches und zugleich eines der mit höchstem Perfektionsbewusstsein hergestellten Musikinstrumente, auszeichnet.
Die skulpturale Qualität der Holzkonstruktionen und die elementare Formschönheit der aus Düsseldorfer Kirchen hergebrachten Glocken ist das eine. Das andere ist: Wer sich in den drei Etagen des neuen Gebäudes aufhält, den verführen die Glockenklänge geradezu zum Flanieren und zum Entdecken der Räume. Parallel dazu erfährt unsere sinnlich-körperliche Wahrnehmung der Räume eine Steigerung und Ausweitung. Forsythe nimmt uns mit seiner Installation gewissermassen bei der Hand und lässt uns, sofern wir dazu bereit sind, mit unserer Bewegung im Raum die Architektur Chipperfields und zugleich uns selber neu erleben. Das geschieht völlig zwanglos und individuell, da es weder vorgegebene Richtungen noch einen bestimmten Parcours gibt.
Die gesamten Sinne
Spannend ist, dass Forsythe als ein Künstler von Bewegung und Tanz im Kunstmuseum als einem aufs Visuelle angelegten Gebäude dieses Visuelle wohl nicht vernachlässigt – Beispiel dafür sind die Glockenstühle, aber auch die Wechsel der Lichtintensität in den Räumen –, es aber aus dem Zentrum rückt und einbettet in einen sinnlichen Gesamtzusammenhang, in dem das Akustische einen gleichwertigen Stellenwert einnimmt und zu dem auch die Erfahrung der Bewegung im Raum gehört. Möglich auch, dass Forsythe uns auf diese Weise die von Chipperfield verwendeten Materialien deutlicher wahrnehmen lässt.
Wie wichtig der Tastsinn werden kann, unterstreicht das Projekt dadurch, dass das Kunsthaus Zürich in der Begleitbroschüre auch die Braille-Schrift verwendet und dass es Führungen mit der blinden Autorin, Journalisten und Theologin Yvonn Scherrer anbietet. Ebenso gibt es Rundgänge für Gehörlose. Das alles macht deutlich, wie sehr sich Raum, Musik, Klang und Bewegung gesamtsinnlich rezipieren lassen und dass sich die sinnlichen Wahrnehmungen und das Denken in einem Brennpunkt treffen. Folgerichtig zitiert die Projektbroschüre den bedeutenden Bildungstheoretiker und -Reformer Johann Amos Comenius (1592–1670) mit dem Ausspruch „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“. Das geschieht durchaus im Sinne von William Forsythe selber, dessen ebenfalls zitierte Aussage „Keine Erkenntnis ohne Bewegung“ als Motto seiner ganzen Lebensarbeit gelten kann.
Das Sakrale und das Profane
Die Installation von William Forsythe ist vielschichtiger, als es auf Anhieb den Anschein macht, denn die Glocke ist nicht irgendein klangerzeugendes Instrument. Sie ist – auch ohne dass wir Schillers Ballade bemühen – von kulturhistorisch weitverzweigter Bedeutung. Das gilt von ihrer Form, die idealen ästhetischen Vorstellungen entspricht und gleichzeitig jenen physikalischen Gesetzen gehorcht, die ihre akustische Wirkung erst ermöglichen. Die Glocke erfüllte im Lauf der Jahrhunderte Funktionen ganz unterschiedlicher Art, kündete von Frieden und Krieg und Tod, warnte vor Feuer und rief zum Gottesdienst.
Im Wallis und im Tessin erfüllen sie in Carillons ganze Dörfer und Stadträume mit meist fröhlicher Musik. Am häufigsten begegnen wir der Glocke auf Kirchtürmen, wo sie mehrheitlich, aber nicht nur, dem Sakralen zugehörig ist. William Forsythe bringt sie in Zürich in profanem Umfeld zum Klingen. Kündigt sie hier mit der ganzen Wucht ihres Klanges das neue Museum an? Oder überspielt Forsythe mit dem Transfer der Glocken ins Museum die Grenze zwischen Sakralem und Profanem? Feiert die Glocke angesichts zunehmender Entfremdung von institutionalisierter Religiosität das Kunstmuseum als neue Kathedrale?
Kunsthaus Zürich, Chipperfield-Bau. Bis 24. Mai