Strafrichter Siro Quadri hat am Donnerstag sein Urteil mündlich begründet: Er übernahm die Anklage der Staatsanwaltschaft vollumfänglich und verurteilte Lisa Bosia zu einer bedingt erlassenen Geldstrafe von 80 Tagesansätzen von je 110 Franken, zu einer Busse von 1000 Franken sowie den Verfahrenskosten. Die Angeklagte habe eingestanden, dass sie in neun Fällen jungen Menschen geholfen habe, rechtswidrig in die Schweiz einzureisen und unser Land wieder zu verlassen. Sie sei sich bewusst gewesen, dass sie auf diese Weise das Ausländergesetz verletzt habe.
Beim Grenzübertritt ertappt
Am 1. September des letzten Jahres wurde die 43jährige Lisa Bosia von Grenzwächtern angehalten, nachdem sie in ihrem Auto die Grenze bei Stabio überquert hatte. Sie hatte sich vergewissert, dass die Luft rein war und der nachfolgende Wagen mit vier jungen Männern aus Eritrea gefahrlos in die Schweiz einreisen konnte; aber sie hatte sich getäuscht. Im Lauf der darauffolgenden Untersuchung ermittelten die Behörden, dass sie mitgeholfen hatte, innerhalb von zwei Wochen wiederholt insgesamt 24 jungen Menschen, vorwiegend Minderjährigen, die Einreise in die Schweiz zu ermöglichen.
Meistens verbrachten die Flüchtenden aus Eritrea und Syrien die Nacht im Haus ihrer Helferin; am Tag danach wurden sie an einen Bahnhof gefahren und erhielten eine Billett nach Frankfurt. Viele Flüchtende, die Bosia in Como kennenlernte, beteuerten, sie wollten zur ihren Verwandten nach Deutschland, doch sei es ihnen nicht gelungen, in die Schweiz zu gelangen, um nach Norden weiterzureisen.
Staatsanwältin: keine humanitäre Aktion
Bei der Gerichtsverhandlung vor einer Woche hatte die Staatsanwältin betont, hier gehe es nicht um Politik und nicht um das Phänomen der Migration. Es stelle sich die Frage, ob das Gesetz verletzt worden sei oder nicht, und im Interesse der Sicherheit müsse es eingehalten werden. Die Staatsanwältin warf der Angeklagten vor, sie habe die Flüchtenden Gefahren ausgesetzt, sie ihrem Schicksal überlassen und nicht nachgefragt, was mit ihnen in Deutschland geschehen würde; deshalb könne man nicht von einer humanitären Aktion sprechen.
Lisa Bosia – sie ist Grossrätin und Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion – unterstützt seit vielen Jahren Asylsuchende; früher arbeitete die Sozialarbeiterin beim Tessiner Arbeiterhilfswerk. Besonders betroffen machte sie der Krieg in Syrien. Mit zahlreichen andern Freiwilligen brachte sie vor einigen Jahren den im Mailänder Hauptbahnhof angekommenen Flüchtlingen Essen und Kleider. Sie reiste auch in den Balkan und nach Griechenland, um zu helfen und gründete ein eigenes Hilfswerk.
Flüchtlinge mit Verwandten in der Schweiz
Der Sommer 2016 war eine grosse Herausforderung. Das Gebiet um den Bahnhof Como war zu einem Notstandsgebiet geworden. Zuerst seien 150 Flüchtlinge, Familien, Frauen und viele jungen Männer, mit der Bahn angekommen, innert kurzem sei deren Zahl auf 500 angewachsen, die im Park beim Bahnhof in prekären Verhältnissen kampierten, schilderte Bosia die Situation. Wiederholt wurden Flüchtlinge von den italienischen Behörden nach Süditalien transportiert, doch schon wenige Tage danach tauchten sie wieder in Como auf. Zusammen mit Freiwilligen organisierte Bosia Essen und Kleider für die Flüchtenden. Einige waren verletzt, andere traumatisiert, viele verzweifelt. Die meisten Menschen wollten nach Deutschland weiterreisen, viele sagten, sie hätten dort Verwandte.
Erschüttert von der Aussichtslosigkeit dieser Menschen, die ihr Ziel nicht erreichen konnten, suchte Bosia nach Lösungen. Auch viele Minderjährige, die an der Grenze sagten, sie hätten Verwandte in der Schweiz, wurden von den Grenzwächtern stets nach Italien zurückgeschickt. Bosia trat danach in Kontakt mit deren Angehörigen in der Schweiz, verlangte von ihnen eine Fotokopie ihrer Ausweispapiere. Ausgerüstet mit einem solchen Dokument und einem schriftlichen Gesuch um Asyl, gelang es gegen 30 jungen Menschen, die Grenze zu überschreiten und in Chiasso ihr Asylgesuch zu stellen.
Reue ja und nein
Den vielen Menschen, deren Verwandte sich nördlich der Schweiz befanden, blieb die Grenze jedoch verschlossen. Es gelang ihnen nicht, die Schweiz zu durchqueren. Deshalb war Bosia schliesslich bereit, zwei Syrer, die von einer Drittperson über die Grenze geführt worden waren, in ihrem Haus, nicht weit von der Grenze entfernt, für eine Nacht zu beherbergen. Am folgenden Morgen liess sie die zwei an den Bahnhof begleiten; dort erhielten sie Fahrkarten nach Frankfurt. Das war am 18. August 2016, und danach half die Angeklagte noch achtmal, bis sie am 1. September des letzten Jahres ertappt wurde. Um den verzweifelten jungen Menschen die Reise zu ihren Verwandten im Norden zu ermöglichen, sei dieser Weg der einzige gewesen, eine Alternative habe es nicht gegeben, sagte Bosia.
Auf die Bemerkung der Staatsanwältin, die Angeklagte zeige keine Reue, antwortete diese mit folgenden Worten: „Wenn ich daran denke, was ich im letzen Jahr ertragen musste, ja, dann bin ich reuig, doch wenn ich an die Menschen denke, denen ich geholfen habe, dann bin ich es nicht. – Interessanter Zufall: Am Tag bevor sie von den Grenzwächtern bei Stabio angehalten worden war, nahm Bosia mit Juristen aus Italien und der Schweiz an einer Pressekonferenz in Chiasso teil, an welcher die konsequente Rückweisung auch von unbegleiteten Minderjährigen durch die Grenzwächter aufgezeigt und beklagt worden war.
Verteidiger: Freispruch
In seinem Plädoyer hatte der Verteidiger betont, Bosia habe verzweifelten Menschen, die von Krieg und Gewalt gezeichnet waren, in derer aussichtslosen Situation in Como helfen wollen. Sie habe in schwerer Bedrängnis gehandelt. Zur Entlastung der Angeklagten erinnerte der Verteidiger daran, dass aufgrund des Schengen-Abkommens die Grenzen zwischen Vertragsstaaten interne Grenzen seien. Die Mithilfe zur rechtswidrige Ein- und Ausreise von Ausländern sei nur beim Überschreiten einer Aussengrenze des Schengenraums strafbar, ein Gutachten der Universität Luzern bestätige diese Auffassung. Deshalb sei Bosia freizusprechen, andernfalls seien alle mildernden Umstände zu berücksichtigen.
Strafrichter: andere Möglichkeiten zur Hilfe
Der Richter liess die These der Straffreiheit beim Übertreten innerer Grenzen im Schengenraum nicht gelten, denn Kontrollen seien im Grenzbereich weiterhin möglich, nicht nur in der Schweiz, auch in den andern Schengenländern. Zwar sei das Beherbergen von rechtswidrig anwesenden Ausländern während weniger Tage nicht strafbar, doch in diesem Fall handle es sich um eine mehrfach wiederholte Beherbergung. Wenn behauptet werde, die Menschenrechte würden nicht respektiert und die Behörden würden alle Menschen auf der Flucht an der Grenze zurückschicken, so sei das Strafgericht nicht der Ort, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Die Flüchtenden, die sich in Italien befanden, seien nicht in akuter Gefahr gewesen, Italien sein ein demokratischer Staat, deshalb hätte es für Lisa Bosia andere Möglichkeiten gegeben, zu helfen. Richter Quadri anerkannte, dass Bosia sich mit grossem Mitgefühl der Flüchtlinge angenommen habe, doch das gelte für ihren Einsatz in Como. Abschliessend stellte der Richter fest, was zur Entlastung der Angeklagten in Betracht falle, habe die Staatsanwaltschaf beim Festlegen des Strafmasses bereits berücksichtigt.
Nach der Urteilsverkündung sagte Lisa Bosia, sie werde die schriftliche Begründung abwarten, um zu entscheiden, ob sie das Urteil ans Obergericht weiterziehen werde. Sofern das mithelfen würde, die Diskussion über die Möglichkeiten, die Flüchtenden zu unterstützen und die Rechte der Helfer zu stärken, wäre das nützlich. Vorerst will die Tessinerin im Grossrat bleiben.