Die Politik versagt in Anbetracht der anschwellenden Heerscharen von Migranten. Das ist die Meinung nicht nur derjenigen, die im Namen der Menschenrechte und der Humanität wünschen, dass Politiker das Los der Flüchtlinge erleichtern und dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft mehr für sie tut. Auf der anderen Seite fordern auch diejenigen, die den Flüchtlingen unverhohlen feindlich gegenübertreten, eine aktivere Politik: im Sinne der Härte und Abschottung.
Der Schlingerkurs
Die Mängel der gegenwärtigen Politik sind nur zu offenkundig: Es wird ein bisschen gerettet, es wird ein bisschen abgeschottet, ein bisschen in Lager gesperrt, stark betroffene Länder wie Griechenland, Italien und Spanien werden weitgehend mit dem Problem allein gelassen und ansonsten wendet man sich entrüstet gegen diejenigen, die mit Worten zündeln oder schon nicht mehr davor zurückschrecken, Flüchtlingsheime in Brand zu setzen,
Sowohl rechts wie links vermisst man eine klare Linie der Politik. Politiker, so wird gesagt, wollen ihre Wähler nicht verlieren. Deswegen versuchen sie, es möglichst vielen Wählern möglichst recht zu machen und grössere Gruppen nicht zu verprellen. Und so steuern sie einen Schlingerkurs zwischen Humanität und Ressentiment.
Praktizierter Zynismus
Diese Einschätzung ist nur halb richtig. Dem ersten deutschen Reichskanzler, Otto von Bismarck, wird der Satz zugeschrieben: „Politik ist die Kunst des Möglichen.“ Diese Definition ist nicht sehr beliebt, denn sie klingt ein bisschen zynisch. Es heisst eben nicht: Politik ist die Durchsetzung der Menschenrechte, die Garantie individueller Wohlfahrt und Sicherheit. Die hehren Ideale, die für unsere Verfassungen und auch für unser politisches Selbstverständnis unverzichtbar sind, liefern keine direkten Handlungsanweisungen für die gewählten Volksvertreter. Sie müssen abwägen, was sie für möglich erachten und was nicht.
Das ist eine bittere Einsicht und sie darf nicht dazu führen, die humanen Ideale unserer Gesellschaft beiseite zu wischen und sich wohlig in der vermeintlichen Realität zu suhlen. Das wäre praktizierter Zynismus. Es gilt, die Spannung auszuhalten zwischen dem, was unserer Gesellschaft ihren ideellen Wert verleiht, und dem, was sie zu leisten in der Lage ist.
Zerstörung der ethischen Grundlagen
Diese Problem stellt sich an vielen Stellen. Die Justiz ist dem Ideal der Gerechtigkeit verpflichtet, aber sie weiss selbst am besten, dass sie in ihren Prozeduren diesem Ideal bestenfalls nahekommt. Der Staat muss sich verteidigen können, und jeder weiss, dass Kriege grausam und inhuman sind. Und die Debatten über Sinn und Grenzen der Wohlfahrtsstaates füllen Bibliotheken und müssen doch immer wieder neu geführt werden.
Die Flüchtlingsproblematik, die mehr und mehr zu einer Migrationsproblematik wird, weil wir es zunehmend mit einer Völkerwanderung zu tun haben, stellt uns vor die Frage, was unsere Gesellschaften vor dem Hintergrund ihrer Werte und Ideale zu leisten in der Lage sind. Diejenigen, die die Lösung darin sehen, diese Werte und Ideale einfach über Bord zu werfen, machen es sich viel zu einfach. Sie zerstören unsere ethischen Grundlagen und lösen die Flüchtlings- beziehungsweise Migrationsproblematik nicht. Denn sie verkennen, dass wir in unserer vernetzten und schon längst ethnisch und kulturell durchsetzten Gesellschaft nicht einfach ein paar Türen schliessen können.
Rechte Profiteure
Aber auch diejenigen irren, die glauben, es käme nur darauf an, unseren Werten treu zu bleiben und sie unerschrocken in die Tat umzusetzen. Denn sie verkennen, dass Werte auch davon abhängen, wie Menschen zu ihnen stehen. Populisten und Demagogen sind widerlich, aber sie sind leider eine soziale Tatsache, die man nicht ignorieren kann. Auf ihre primitive Weise zeigen sie die Grenzen auf, die unseren Gesellschaften gezogen sind. Das kann man sich ganz einfach klarmachen: Angenommen, die Flüchtlinge würden auf ihren Wegen sicher geleitet, human aufgenommen und dann auf verschiedene Länder in diverse Städte verteilt. Dort würden sie in Quartieren wohnen, in denen sowieso schon soziale Probleme an der Tagesordnung sind. Was dann passiert, müssen wir nicht erst fragen, denn wir wissen es längst. Davon profitieren die populistischen Parteien von rechts, die heute auch von Leuten gewählt werden, die sich das bis vor kurzem nicht hätten vorstellen können.
Im Grunde wissen es alle, aber ausser den Rechten wagt es keiner zu sagen: Die Tragfähigkeit unserer Gesellschaften für Flüchtlinge beziehungsweise Migranten ist viel geringer, als wir es wünschen. Seit Jahren leidet Europa unter der stagnierenden Wirtschaft, viel zu hoher Arbeitslosigkeit und der Schuldenproblematik. Trotz heftigen Bemühens ist keines dieser Probleme gelöst worden. Gerade wenn man etwas sehr Gutes täte, nämlich die Flüchtlinge arbeiten zu lassen, würde man die Arbeitslosigkeit verstärken, es sei denn, die Neuankömmlinge würden der Wirtschaft wieder Wachstum bescheren.
Grundlegende Debatte
Es könnte durchaus sein, dass Migranten und Flüchtlinge derartige positive Impulse setzen. Das müsste aber von Wirtschaftsexperten prognostiziert und von Politikern erklärt werden. Dann könnte man eine gewisse Opferbereitschaft der betroffenen Bevölkerungsgruppen verlangen, weil ja die Aussicht besteht, dass am Ende alle profitieren. Aber die jetzige Politik ist durch Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Man ist entsetzt, dass Flüchtlinge ertrinken, aber nach England lassen will man sie auch nicht.
Und noch schlimmer: Politiker verschliessen die Augen vor der extrem unangenehmen Tatsache, dass die jetzigen Flüchtlingswellen aller Voraussicht nach nur die Vorboten weiterer noch grösserer Wellen sind. Deswegen müssen Konzepte für eine Problematik erarbeitet werden, die unsere Gesellschaft schon jetzt durchschüttelt. Gerade im Namen ihrer Werte und ihrer Humanität brauchen wir eine tiefgehende politische Debatte.