«Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften (Evangelien) heraufgeführt (…) und diesen Mann uns und den kommenden Geschlechtern zum Heiland gesandt.» So heisst es in einer in Priene gefundenen Inschrift, datiert um 9 v. Chr. Sie handelt von der Geburt beziehungsweise dem Geburtstag des vergöttlichten Kaisers Augustus, der von 27 v. Chr. bis 14 n. Chr. Herrscher des Römischen Reiches war.
Für christlich sozialisierte Menschen klingt das Zitat irgendwie vertraut. Auch der Engel in der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas verkündet eine Freudenbotschaft (Evangelium) von der Geburt des Heilands: «Ich verkünde euch grosse Freude, die das ganze Volk betreffen wird: Heute ist euch der Retter, der Heiland geboren worden. (…) Ihr werdet ein Neugeborenes finden, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe.» (Lk 2,10-12)
Gegengeschichte zur Kaiserideologie
Lukas verwendet in seinem Text also dieselben Begriffe «Evangelium» und «Heiland/Retter», die auf der Inschrift von Priene den Geburtstag des göttlichen Kaisers beschreiben. Er erzählt damit die Geburtsgeschichte Jesu gleichsam als eine Gegengeschichte zur Kaiserideologie, stellt sie in den politischen Kontext von römischer Herrschaft und Besatzung.
«Evangelium» war ein politisches Propagandawort und bezeichnete Nachrichten aus dem Kaiserhaus als «Freudenbotschaften». Als Retter und Heiland wurde Kaiser Augustus bezeichnet, der den Menschen ein Zeitalter des Friedens brachte. Und mit dem Motiv des göttlichen Kindes bezieht sich Lukas nicht nur auf den jüdischen Propheten Jesaja. Dieser verheisst ja die Geburt eines göttlichen Kindes, das umfassenden Frieden und Gerechtigkeit bringt (Jes 9,5f). Lukas spielt auch auf die Prophezeiung des römischen Dichters Vergil in seinen Hirtengedichten an, der auf eine politische Neuordnung unter Kaiser Augustus hoffte und daher von der Geburt eines göttlichen Kindes und dem Anbruch des Goldenen Zeitalters sprach.
Wir können also die Weihnachtsgeschichte von Lukas zwischen den Zeilen auch als subversiven Gegenentwurf zum kaiserlichen Evangelium lesen: Mit der Nennung des römischen Kaisers Augustus, der einen Volkszensus erlässt, und der Erwähnung des Quirinius, der in Syrien Statthalter war, ordnet Lukas die Geburt Jesu in historische Koordinaten der grossen Welt ein. So verweist er darauf, dass es sich hier um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung handelt.
Wahrer und falscher Frieden
Und weiter zeigt Lukas auf, wo Gott sich wirklich finden lässt: nicht im Herrscherpalast und bei den Privilegierten, sondern in einer Futterkrippe, bei den einfachen Leuten, den sozial Schwachen und Unterdrückten, die unter dem unechten Frieden der Pax Romana leiden. Den Hirten, die zu den unteren sozialen Schichten gehören, verkündet der Engel die Freudenbotschaft von der Geburt des göttlichen Kindes zuerst: Die wahre Friedenszeit beginnt mit diesem Kind, geboren von Maria, einer jungen jüdischen Frau. Dies ist der Retter, der lang ersehnte Messias Gottes, der das jüdische Volk von der römischen Herrschaft befreit und solidarisch ist mit den Armen und Bedrängten aller Art. Mit ihm wird die Hoffnung auf einen Neuanfang, auf Gerechtigkeit und umfassenden Frieden für alle Menschen erfüllt. Diese politische Dimension der Weihnachtsbotschaft ist im Kitsch von Jingle Bells, vorweihnächtlichem Einkaufsrausch und bunt geschmückten Tannenbäumen längst vergessen gegangen.
Und doch ist es das, was Christinnen und Christen an Weihnachten feiern: die Verheissung eines Neubeginns, den Anfang einer anderen, gerechten und friedvollen Welt, in der Gott Mensch geworden ist. In Gestalt eines Kindes, nicht eines Herrschers. Wie jedes Kind geboren von einer Frau, verletzlich und zart; wie jeder Mensch angewiesen auf die Liebe und Fürsorge seiner Eltern.
Es muss nicht bleiben, wie es ist
Die Geburt des göttlichen Kindes an Weihnachten zu feiern, heisst deshalb die Hoffnung auf einen immer wieder möglichen Neuanfang nicht aufzugeben; an das Wunder zu glauben, dass auch in düsteren Zeiten jederzeit etwas anderes beginnen kann; dass mit jeder Geburt eines Kindes etwas Neues in die Welt kommt und wir alle als geburtliche Wesen Neues anfangen und als Handelnde in die Welt eingreifen können.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt hat diesen Gedanken der Geburtlichkeit in ihrem Werk «Vita activa» eindrücklich entfaltet: «Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.» Und da jeder Neuanfang im Widerspruch steht zum bereits Dagewesenen oder zum Vorhersehbaren, mutet jeder Anfang immer wie ein Wunder an.
Das Wunder besteht darin, dass mit der Geburt jedes Menschen ein Neuanfang möglich ist, den wir handelnd verwirklichen können; dass wir Handlungsspielräume haben und die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist. Oder wie Hannah Arendt schreibt: «Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ’die frohe Botschaft‘ verkünden: ’Uns ist ein Kind geboren.‘»