Wer erinnert sich, zum Beispiel, an jenen Wahlabend als die SPD – wieder einmal – eine historisch katastrophale Niederlage eingestehen musste und die 50-Prozent-Parteichefin, Saskia Esken, dem staunenden Publikum verkündete: «Wir haben verstanden.»
Nun hätte man gerne gewusst, was die sozialdemokratischen Strategen «verstanden» haben. Denn an der Politik der Kanzlerpartei (und ihrer Koalitionäre) änderte sich – nichts. Ergebnis: Der damaligen Wahlschlappe folgte eine weitere und noch eine und … Doch im Grunde blieb alles beim Alten. Aber die Bürger reagierten mehr und mehr verstimmt. Manche Sprüche kann man wirklich nicht mehr hören, ohne dass sich einem die Nackenhaare sträuben. Da hätte man gerne das an Stammtischen und in anderen munteren Runden beliebte Phrasenschwein zur Hand, in das einzahlen muss, der (oder die) eine solche «Weisheit» von sich gibt.
Damit bloss kein Missverständnis aufkommt: Die Sozialdemokratie steht mit ihrer verbalen Einfallslosigkeit nach in aller Regel unangenehmen bis dramatischen Ereignissen keineswegs allein. Bei Christ- und Freidemokraten, Grünen und Linken geht es genauso zu. Zwar sind, fraglos, auch die Politiker (siehe Messermorde von Solingen) von terroristischen Anschlägen tief erschüttert. Auch sie sind, erkennbar, von der Unfassbarkeit des Verbrechens bis ins Mark getroffen. Doch aus irgendeinem Grund schaffen es die Personen, die doch gewählt wurden, um den gemeinsamen, also unser aller, Staat zu lenken, für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen und Vertrauen zu wecken, nicht, die richtigen Worte zu finden und die verunsicherten Menschen zu erreichen.
«Die volle Härte des Rechtsstaats»
Wenn schon die professionellen Redenschreiber in den Parteizentralen und Ministerien versagen, weil sie in jahrelanger Phrasen-Routine versunken sind, dann müssten doch wenigstens jene verantwortlichen «Eliten», denen wir Bürger an den Wahlurnen unser und unseres Landes Schicksal anvertraut haben, die Gabe besitzen, mit einer glaubwürdigen Sprache die Köpfe und Herzen der Bevölkerung zu erreichen. Stattdessen wirkt es meistens nicht nur so, als ob (egal zu welcher Gelegenheit) der Gang ins verbale Archiv für ausreichend erachtet wird – es ist ganz offensichtlich wirklich so.
Wahrscheinlich könnte man sogar Wetten darauf abschliessen, welche Phrase bei welchem Ereignis hervorgeholt wird. Ob rassistisch, religiös oder politisch motivierte Anschläge wie in Halle, Hanau, Mannheim, Trier oder wo auch immer – mit Sicherheit wird (wie nach Solingen vom Kanzler Scholz und Innenministerin Nancy Faeser) die «volle Härte des Rechtsstaats» bemüht, nachdem natürlich zuvor «lückenlose Aufklärung» (NRW-Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung und Integration, Josefine Paul) versprochen wird. Nicht vergessen werden darf bei diesem Wettbewerb der Phraseologie der anschliessende mahnende Zeigefinger, man müsse bei aller Abscheu und Empörung über die Mordtaten natürlich Acht geben, «nicht zu verallgemeinern und keinen Generalverdacht» aussprechen. Dies besonders, wenn ein Täter Migrationshintergrund besitzt. Als ob es nicht völlig gleichgültig wäre, ob ein Messerstecher als «Flüchtling» aus Syrien kam oder «Biodeutscher» (was für ein Wort!) ist. Gewalt ist Gewalt. Daran ändert weder die Hautfarbe, noch die Religion, noch sonst irgendetwas.
Medien scheuen offene Debatten zu bestimmten Themen
Eine besonders interessante Wortschöpfung haben sich nach der Mordtat von Solingen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) einfallen lassen. Wir dürften uns, mahnten sie nahezu textgleich, trotz und gerade wegen solcher Verbrechen «unsere Art zu leben nicht nehmen lassen». Ja, lassen wir uns denn nicht schon längst eine vielfach andere Art zu leben diktieren? Weihnachtsmärkte ohne Beton-Poller gegen etwaige Lkw-Attacken – keine Ausnahme mehr, sondern seit Berlin-Breitscheidplatz Normalität. Freibad-Vergnügen mit Security-Schutz, Mitführverbot von Messern mit mehr als sechs Zentimeter langen Klingen (lässt sie damit nicht auch eine Halsschlagader durchtrennen?) an Bahnhöfen, Abendspaziergänge in Stadtparks mit ängstlichen Blicken nach links und rechts – alles normal.
Und es sind ja nicht einmal nur die Politiker, die jahrelang diesen Alltag wie heisse Eisen behandelten. Auch der mediale Bereich, ob gedruckt oder gesendet, trägt ein gerüttelt Mass an Verantwortung, dass Themen wie zunehmende Gewalt, Anteil von Migranten daran, Entstehen von Parallel-Gesellschaften vor allem in Grossstädten usw. nur mit ganz spitzen Fingern angefasst wurden. Weil, so die (sehr zurückhaltend formuliert) seltsame Begründung, eine offene Debatte über solche Fehlentwicklungen «doch bloss den Vereinfachern und rechten Populisten nützen würde».
Versandeter «Aufstand der Anständigen»
Das Ergebnis sieht man keineswegs erst jetzt, aber besonders ungeschminkt in den jüngsten Landtagswahl-Ergebnissen von Thüringen und Sachsen, wo praktisch jeder Dritte sein Kreuzchen bei einer Partei platzierte, deren führende Repräsentanten mittlerweile sogar ganz offen eine Geisteshaltung an den Tag legen, die das deutsche Volk schon einmal ins Verderben führte. Das trifft uns alle. Jeden Einzelnen und jede Einzelne. Jetzt steht wirklich, jenseits aller Phrasendrescherei, «unsere Art zu leben» auf dem Spiel. Unsere Freiheit, unsere Weltoffenheit, unsere Liberalität und unsere Toleranz. Und, vor allem, unsere nach dem verheerenden Krieg mühsam genug erlernte und errungene Demokratie, die freilich keinesfalls Mitläufertum voraussetzt, sondern im Zweifelsfall Mut und individuelle Verantwortung. Vor Jahren war einmal zu einem «Aufstand der Anständigen» aufgerufen worden. Gegen Islamismus, gegen politische Rattenfänger auf der politisch äussersten Rechten. Sollte es eine solche Revolte wirklich jemals gegeben haben, ist sie jedenfalls kläglich im Sande verlaufen. Wahrlich nichts gegen Unterschriftensammlungen. Aber gibt es eine bequemere Art, seinem Gewissen ein sanftes Ruhekissen zu verschaffen und sich selbst auf der Seite «der Guten» zu wähnen, als seinen Namen auf ein Stück Papier zu setzen, das im Zweifel niemand auch nur zur Kenntnis nimmt?
Richtig, im Moment ist in der Politik vieles in Bewegung geraten. Die Traditionsparteien überschlagen sich schier mit Bekenntnissen, in der Vergangenheit Fehler begangen zu haben und jetzt mit entsprechenden Massnahmen die Lehren daraus zu ziehen. Und «spät» ist, in der Tat immer noch besser als «nie». Doch es bleibt ein schaler Geschmack. Nämlich der, dass der Karren erst einmal tief in den Dreck gefahren werden musste, bevor man sich dessen bewusst machte. Dass nämlich dem Land und der Gesellschaft eine veritable Spaltung droht, dass sogar das freiheitliche System mehr und mehr in Misskredit und die Demokratie in Gefahr gerieten, bevor endlich Ansätze zum Handeln erkennbar werden. Obwohl noch immer nicht nur Restzweifel bleiben, ob diese Erkenntnis tatsächlich aus eigener Einsicht gewachsen oder dem Druck der Verhältnisse und der Angst vor Wahlschlappen geschuldet ist.
«Wir haben verstanden» – doch mehr als eine Phrase?
Und wer auch immer nun versucht, das Ruder herumzureissen, muss endlich das Phrasenschwein vom Tisch nehmen. Denn es warten wahre Herkulesarbeiten. Zumal die (in der Rückschau) Zeiten relativ einfacher Koalitions- und Regierungsbildungen vorbei sind. Neue Generationen, aufgewachsen in materiellem Wohlstand und Sicherheit, finden ganz offensichtlich Wohlgefallen an schillernden Figuren wie Sahra Wagenknecht und sogar an nationalistischen Ideen. Man kann ja mal ausprobieren. Nur so zum Spass. Nein, das kann man nicht und sollte es auch gar nicht erst versuchen. Man wird bald sehen ob «Wir haben verstanden» inzwischen mehr als bloss eine Phrase ist. Es ist einiges in Bewegung geraten.