Vor Griechenland sinkt ein Flüchtlingsboot: vermutlich Hunderte Tote. Das Echo sei bescheiden, heisst es. Vor Neufundland tauchen fünf Superreiche zur Titanic. In den Medien löst dies ein riesiges Tamtam aus. «Schreckliche Gesellschaft», «schreckliche Medien». Wirklich?
Wenn man den Medien eins ans Bein treten kann, sind viele schnell bereit. Das Feindbild Medien ist längst endemisch geworden. Da ertrinken Hunderte Flüchtlinge. Das nimmt man einfach hin. Aber die Berichte sprudeln, wenn fünf Multimillionäre oder Milliardäre sich auf ein waghalsiges Tiefsee-Abenteuer wagen.
«Typisch Medien», «schlimme Zeiten».
Aber: Erstens stimmt es nicht, dass die Flüchtlingskatastrophe kaum beachtet wurde. Klickt man auf «greek refugees boat sinks» erhält man auf Google über fünf Millionen Einträge. Auf Deutsch bringt «griech, boot, flüchtlinge, katastrophe» gegen 300’000 Einträge. Jetzt, wo sich offenbar erhärtet, dass die griechische Küstenwache das Boot ausserhalb der griechischen Hoheitsgewässer geschleppt hat (wo es kenterte), ist das Ereignis längst wieder zu einem Top-Thema geworden. Also: Die Berichterstattung der Medien über das Flüchtlingsboot war gar nicht so mickrig, wie es hiess.
Das Schicksal der Flüchtlinge darf uns nicht egal sein. Was sich im Mittelmeer abspielt, ist ein Desaster, eine humanitäre Katastrophe. Dass wir sie von uns schieben, hat nichts mit den Medien zu tun. Das liegt daran, dass sich die Tragödien ständig wiederholen. «Schon wieder ein gekentertes Boot.» Und das seit Jahren. Das stumpft ab. Zudem ist der Mensch wahrscheinlich nicht fähig, um Kollektive zu trauern. Einzelschicksale gehen unter die Haut. Wenn 700 sterben, sind wir überfordert. Der schreckliche Stalin sagte einmal einen schrecklichen Satz, der leider stimmt: «Ein einzelner Todesfall ist eine Tragödie, eine Million Todesfälle sind eine Statistik.»
Aber: Kann man die beiden Ereignisse, das Flüchtlingsboot und die OceanGate überhaupt vergleichen? Wieso tut man das?
Die Titanic fasziniert die Menschen seit jeher. Jedes Kind weiss darüber Bescheid. Vielleicht kennt man das Datum der Schlacht am Morgarten nicht, aber den Untergang der Titanic im Jahr 1912 kennen alle. Das Drama zieht einen auch heute noch in den Bann: Das damals grösste Schiff der Welt, Jungfernfahrt, reiche Leute an Bord, die Kapelle spielt beim Untergang: «Näher mein Gott zu dir», 1’500 Tote.
Über ein Dutzend Filme und Fernsehproduktionen wurden gedreht. Der Film von James Cameron wurde in den USA von weit über 130 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern gesehen, in Deutschland waren es 18 Millionen.
Als die BBC im Mai dieses Jahres eine aus 700’000 Bildern zusammengesetzte 3D-Rekonstruktion des 1985 entdeckten Wracks veröffentlichte, wurde diese bisher Dutzende Millionen Mal angeklickt. Die Titanic ist das weltweit berühmteste Schiffswrack. Die Faszination Titanic ist ungebrochen.
Und jetzt dies: Da gab es einen Amerikaner, der hat einen exzentrischen Geschäftssinn und bietet Tauchfahrten zu eben dieser sagenumwobenen Titanic an. Eine verrückte Idee. Vor allem verrückt, wenn man erfahren hat, dass die Tauchkapsel alles andere als sicher und nicht einmal zertifiziert ist.
Jetzt geschieht es also. Tagelang sucht man das verschwundene Boot. Und die Medien berichten, spekulieren und berichten. Ist das so schlimm?
Das Ereignis enthält alle Zutaten, um Interesse zu wecken. Da ist die von Legenden umrankte Titanic, die 3’800 Meter tief im Meer liegt. Da ist eine abenteuerliche Mission zu eben diesem Wrack, die bei vielen ein Schaudern auslöst. Was wollen die Insassen: ein Abenteuer, Nervenkitzel, einen Kick? Und dafür zahlen sie pro Kopf 250’000 Dollar? Verrückt! Kann man mit einer kleinen Kapsel fast 4’000 Meter tief tauchen? Wie funktioniert das? Das ist der Stoff für Bubenträume. Oder sind es Träume von Forschern, die Grenzen sprengen wollen?
Das gekenterte Flüchtlingsboot vor Griechenland und die «OceanGate» sind zwei völlig verschiedene Themen. Das Einzige, was die beiden Ereignisse verbindet, ist das Wasser. Und sonst gar nichts. Das Flüchtlingsboot kenterte AUF dem Wasser, die OceanGate implodierte IM Wasser. Und wo gibt es sonst Gemeinsamkeiten? Nirgends, null. Weshalb konstruieren da gewisse Leute einen Zusammenhang?
Wieso also diese Empörung, wenn man über OceanGate ausführlich berichtet? Die Moralisten und Medienschelter sagen, die Medien hätten kein Mitleid mit den Flüchtlingen gezeigt. Fünf Milliardäre seien eben wichtiger als 700 Flüchtlinge. Was für ein Unsinn! Wohl kaum einer, wohl kaum eine, die nicht zu den Familien der Insassen der OceanGate gehörten, hat um das Leben der Superreichen gebangt. Die Medien schon gar nicht. Im Gegenteil: Als sie für tot erklärt wurden, war die allgemeine Reaktion: «Dumm gelaufen, geschieht ihnen recht.»
Abenteuer, Eskapaden, Exzentrisches, Risiko, Aussergewöhnliches, Waghalsiges, Kurioses, Schräges – das interessiert nun mal viele, so, wie der Flug zum Mond oder zum Mars interessiert. Ist es abwegig, sich dafür zu interessieren? Nicht immer ist es das Weltbewegende, das fasziniert.
Gewisse Leute, die die Zeiten so schlimm finden, und das Fernsehen und die Zeitungen sowieso, sollten sich vielleicht ein anderes Thema aussuchen, um den Medien ans Bein zu pinkeln.