Hier ist von einem aussergewöhnlichen Buch zu berichten, welches Peter Radelfinger, der Zeichner und Maler, in der Edition Patrick Frey herausgegeben hat. Ein Bild- und Zitatenband von wahrhaft biblischem Ausmass. Er entstand über Jahre als privates Logbuch der Sichtung von Bildern aus Zeitungen und der Lektüre von philosophischen und kunsttheoretischen Texten.
Die Bilder wurden fein säuberlich ausgeschnitten, meist mit der sie begleitenden Legende, die Texte aus den Büchern kopiert, beides persönlich zusammengebunden zu einem Buch, das in seiner ursprünglichen Form ein Unikat war. Nun ist es – wie immer bei Büchern des Verlegers Patrick Frey – als sorgsam gestalteter Wälzer herausgekommen.
Stringent und opulent
Jeweils auf der linken Seite finden sich die Zitate, fein säuberlich nummeriert von FF 1-597. Auf der rechten Seite die Bilder von FBP 1-672 (Fremdbilder Print), FBD 1-129 (Fremdbilder Digital, [Internet]) und FBN 1-500 (Fremdbilder Diagramme). Man bemerkt Systematik. Dazu passt ein lückenloser Nachweis der Zitate und Bildquellen sowie ein Sach- und Namensregister, das all die zitierten Berühmtheiten enthält, von Abulafia Abraham bis Žižek Slavoj, dazwischen natürlich auch Barthes Roland, Ecco Umberto, Goddard Jean-Luc, Ovid, Piaget Jean, Stein Gertrude, Tse-Tung Mao, Valentin Carl, Warburg Aby etc., etc.
Ich muss gestehen, das Lesen der Zitate ermüdet. Soviel Gescheites, konzentriert in einem Band, ist nur häppchenweise zu ertragen. Damit erinnert das Buch tatsächlich an die Bibel, die der Fromme ja auch nur in täglichen Dosen zu sich nimmt. Dazu trägt bei, dass ein Zitat ein isoliertes Textschnippsel ist, das dem Zitierenden besonderen Eindruck machte. Was fehlt, ist der Fluss der Lektüre, welcher zu diesem speziellen Text geführt hat, der Abgang, der ihm folgt, die Stimmung eines Buches.
Peter Radelfinger gesteht denn auch, Jacques Herzog zitierend, "das Zitat ist etwas, das ich schon immer hasste." Aber er kann es nicht lassen und kommt – Wittgenstein zitierend – zum Schluss: "Für mich hat die Theorie keinen Wert. Eine Theorie gibt mir nichts." Und fährt fort: "Vielmehr geht es um eine Ausrichtung auf das Poetische, auf eine künstlerische Strategie und Produktion. Das Poetische präzisiert und bewahrt vor zu schneller Vereinnahmung und Eindeutigkeit." Wie wahr, denkt man schon nach der Lektüre der ersten zwanzig Zitate!
Ein apokalyptischer Bilderreigen
Ganz anders die Bilder. Da kann man nicht genug bekommen von diesem Katalog des Absurden, Bedrohenden, Apokalyptischen, welches unsere Zeitungen täglich hervorbringen. Selbst wenn es um "Positives" geht, etwa medizinische Geräte, die Leiden lindern. Mit Staunen erkennen wir die Zukunft mit all ihren Schrecken, die längst Gegenwart ist. Computer- und Roboterwelten sind da nur das eine. Das andere: Krieg, Waffen, Tarnkappenbomber, Tierexperimente, komische und abstruse Werbeoberflächen, Erdbebenopfer, Gesichter verzerrt, Gesichter geschunden, Gesichter verstümmelt, Drohnen, der Unabomber, Bomben auf Vietnam und immer wieder Uniformen, Overalls, Schutzanzüge, biologische Sterilräume, biologische Experimente, biologischer Krieg, Flugzeugabstürze, Brückeneinstürze, Monitore, Überwachungssysteme. Aber auch Brautkleider, Moulagen, Claude Lévy-Strauss, Rilkes Grab, Bankenheinis, Biometrie und Polizei.
Schöne neue Welt! Da wirken die vereinzelten Vogel- und Affenabbildungen geradezu niedlich, vermögen den Schrecken moderner Realität aber kaum zu brechen, lassen allenfalls Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies aufkommen. Peter Radelfinger hat in seinen letzten Werken viel mit Vögeln, Vogelhäuschen, Waffen, Überwachungssystemen, Antennen und Monitoren in markanten, blauen Pinselstrichen gearbeitet. Wer sich für diese Arbeiten interessiert, kann sich auf Peter Radelfingers Website umsehen.
Ein Kapitel für sich sind die Diagramme (FBN). Gewaltig, was sich Menschen so ausdenken, um ihre Gedanken zu ordnen, die Zukunft zu planen oder Menschen zu steuern mit Organigrammen, Flussdiagrammen, Netzwerken, mathematischen und topologischen Modellen. Aber auch Körperschemen chinesischer Medizin, Körperschemen von Art-Brut-Künstlern, Gausssche Kurve, Risikomanagement, Alchemie, Home Monitoring and Control, Comic-Knallblasen, Schnittmengen von Katholiken und Bauern bis zum steinharten fraktalen Würfelgefängnis, das auch emblematisch auf dem Titelblatt erscheint. Ebenso auf dem Titelblatt unter dem Würfel die Aufnahme zweier Dummies, die nach einem Autocrash mit den gelb markierten Köpfen in den Airbags liegen, wie wenn sie friedlich schliefen. Das ist offensichtlich Programm: Das ganze Buch macht deutlich, wo wir hinsteuern.
Menetekel und Klärungswerk
Es gibt ein schwer erträgliches Spannungsfeld zwischen den hoch sophistischen Texten, in denen die europäische Crème de la Crème zu Worte kommt, und der modernen Bilderflut, die weitgehend nur einen Schluss zulässt: Wir bewegen uns auf einem äusserst gefährlichen Weg, der - retten uns die wenigen normalen Kreaturen wie die Vögel und Affen nicht, in dem wir sie z.B. schützen - nur böse enden kann.
Das Buch heisst "Falsche Fährten". So falsch kann die Fährte nicht sein, die hier angelegt wurde. Das Bilderbuch ist ein Katalog von allem Schrecklichen, dessen wir uns – wenn wir kurz in der Zeitung eine einzelne Nummer daraus sehen – gar nicht richtig bewusst werden. Erst die einmalige Konzentration all dieser Bilder wird zum Menetekel. Aber es ist auch ein "Klärungswerk", wie Peter Radelfinger schreibt, eine persönliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart also. Ein ausserordentliches Buch!
Peter Radelfinger: Falsche Fährten, Edition Patrick Frey, 500 Seiten, broschiert, 1325 Farbabbildungen, 21 × 29.7 x 4.3 cm, 1.73 kg, ISBN: 978-3-905929-80-5, Fr. 78.–