Azeem Azhars Buch «Exponential»* ist eine aufrüttelnde Erfahrung: Die Lektüre ist zwiespältig, weil gleichzeitig beunruhigend und begeisternd. Wohin geht die Reise? Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte befinden wir uns in einem Zeitalter, in dem sich der technologische Fortschritt immer schneller beschleunigt.
Der Autor spricht von exponentiellem Wachstum und meint damit ein Wachstumstempo, das sich jeweils um den gleichen Faktor vervielfacht: also 1, 2, 4, 8, 16 usw. Diese Entwicklung wird von immer leistungsfähigeren Computerchips, besserer Software und Big Data vorangetrieben.
Wer ist Azeem Azhar und was ist seine Botschaft?
Azhar, *1962, betreibt Grossbritanniens führende Internetplattform «Exponential View», einen «interdisziplinären Führer in die nahe Zukunft». Er gründete selbst mehrere Tech-Firmen, finanziert Start-ups und betätigt sich als Berater für das World Economic Forum und verschiedene bekannte Konzerne. Auch als Publizist tätig, schreibt er u.a. für die Financial Times und die MIT Technology Review.
Der Autor erklärt in seinem 2021 publizierten Bestseller, wie uns die sich beschleunigende Technologieentwicklung zurücklässt und wie wir dem begegnen können. Er verweist auf die sich öffnende exponentielle Lücke zur Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, die sich in viel langsamerem Tempo bewegt. Im Speziellen fokussiert er auf die dadurch verursachten drängendsten Probleme in der Gesellschaft und den Unterschied zwischen der etablierten Wirtschaft, die noch immer im alten Muster gefangen ist, und der neuen Generation der schnellwachsenden digitalen Plattformen. Und er thematisiert die etwas hilflosen Reaktionen liberaler Demokratien auf die so entstandenen sozialen Probleme.
Eine subjektive Auswahl
Eine unwahrscheinliche Vielzahl neuer Fakten, Trends, Erkenntnisse und Prognosen erwartet die Leserschaft des Buches. Die acht Kapitel informieren sektoriell: über die Vorboten des neuen Zeitalters, die vertiefte Definition des «Exponentiellen Jahrhunderts», der Lücken, die es hinterlässt zwischen Entwicklungstempo und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.
Weiter wird die «Unlimited Company» («Firma ohne Grenzen, Superstar-Firma») beschrieben. Mit Blick auf die Welt und ihre neue Unübersichtlichkeit entwickelt der Autor seine Theorie: «The World ist spicky» («stachelige, überraschende Welt»). Nicht fehlen dürfen schliesslich der «Exponentielle Mensch», der gesellschaftliche Überfluss und die Chancen und Möglichkeiten, mit denen sich dieser Mensch konfrontiert sieht.
Ich habe mich entschieden, die beiden Kapitel der «Unlimitierten Firma» («The Unlimited Company») und der «Exponentiellen Lücke» («The Exponential Gap») zu vertiefen, um zu zeigen, wie der Autor beim Beschreiben des Neuen, «für das uns noch das Vokabular fehlt», vorgeht. Gemeint ist das Neue, das wir noch gar nicht verstehen, und die von uns unterschätzte Geschwindigkeit, mit der die Transformationen ablaufen. Azhars Sprache ist direkt und packend.
Was früher einmal war
Das Kapitel der «Unlimitierten Firma» beginnt mit einer Beschreibung, wie grosse Konzerne in der Vergangenheit funktionierten (z. B. Exxon, BP, General Motors, Ford). Solche Firmen dominierten ihre jeweiligen Marktsegmente, dank ihrer schieren Grösse sanken ihre relativen Kosten im Verhältnis zum Umsatz. Mit wachsender Grösse häuften sich jedoch die Probleme: Der Informationsfluss zwischen Chefs, Abteilungsleitern und Personal verlangsamte sich oder stockte gar, nicht selten verloren die Hauptsitze die Übersicht über Filialen, die interne Bürokratie breitete sich aus. Schliesslich wuchsen die administrativen Kosten, bremsten die Expansion und schmälerten den ursprünglichen Grössenvorteil.
Erreichten solche Konzerne ihren maximalen Marktanteil (oft bei rund zwei Fünfteln des Gesamtmarktes), begannen ihre Grenzerträge zu sinken. Reagierten sie als Marktdominatoren mit Preiserhöhungen, schaltete die Konkurrenz sofort. Wurden sie – im Extremfall – trotzdem Monopolisten, reagierte der Staat, indem er diesen Status als illegal erklärte (Rockefellers Standard Oil Company beispielsweise kontrollierte einst 90 Prozent des Marktes, bevor die Behörden das Konglomerat 1911 in 41 kleinere Gebilde zerschlugen).
Die «Unlimitierte oder Superstar-Firma» (The Unlimited Company)
Ein völlig anderes Bild zeigt sich uns bei den heutigen «Superstar Companies», den Titanen des exponentiellen Zeitalters. Der Autor konzentriert sich bei seinen Beispielen, wie zu erwarten, auf Amazon, Google, Microsoft, Uber, Facebook, PayPal, eBay, Alibaba, Spotify etc. Es sind Unternehmen, die weltweit als Repräsentanten der neuen unlimitierten Technologie gelten und Marktanteile bis zu 90 Prozent in ihrem Marktsegment erreichen. Diese Konzerne wachsen schnell, sind aggressiv, produktiv, innovativ und dominieren alsbald Märkte oder kreieren neue. Sie machen daraus einen «fruchtbaren Boden für sich und ausgedörrte Wüsten für ihre Konkurrenz».
Einen Grund für die fulminanten Erfolge solcher Konzerne ortet Azhar im genialen «Netzwerk-Effekt». Gemeint ist, dass sie und ihre jeweiligen Tochterfirmen ein aggressives Informations- und Handelsnetzwerk aufziehen. Am Beispiel Microsoft wird gezeigt, warum diese Firma heute den Markt dominiert: Mit jeder Tochterfirma, die ihre Software laufend zugunsten der Kunden ergänzt und neue Plattformen errichtet, tragen immer mehr Kunden ihrerseits zum neuen Wissen bei.
Aktuelles Beispiel: Im Januar 2022 äusserte Microsoft die Absicht, die Gaming-Firma Activision Blizzard mit seinen 9000 Angestellten für 68,7 Milliarden Dollar kaufen zu wollen. Damit unterstreicht Microsoft seine Absicht, im Kampf um Macht und Marktanteile im Metaversum ganz vorne mit dabei zu sein. Der Hype um virtuelle Welten ist das eine, ob die Wettbewerbshüter in den USA dieser Megafusion zustimmen werden, das andere.
Googles Wachstum
Nehmen wir uns als stellvertretendes Beispiel Google vor. Warum ist die Suchmaschine so erfolgreich? Mit jedem Click (oder Nichtclick) der Benutzer lernt sie dazu. Dort, wo er oder sie auf einer Seite verweilt, lernt Googles Künstliche Intelligenz (KI), dass dieser Link wichtig ist. Jeder Click füttert den Algorithmus. Google ist führend, weil sie dieses Gesetz besser als die Konkurrenz beherrscht und damit unangefochten die Nummer eins geworden ist.
Hier kommt also die Wirkung der KI ins Spiel. Solche selbstlernenden Systeme werden immer kreativer, massschneidern sozusagen die Produkte und steigern dadurch den Nutzen für die Benutzer. Und je mehr diese klicken, desto mehr zusätzliche Informationen generiert das System – dies alles nennt sich «data network», Datennetzwerk. 2010 hatte Google 40 Unternehmen aufgekauft, heute dürften es über 140 sein.
Die drei Pfeiler des Wachstums
Für alle Unternehmen des «Exponential Age» gelten die gleichen Regeln:
1. Waagrechte Expansion: Durch den Zukauf von Unternehmen verleiben sie sich deren Tätigkeitsfelder ein und preschen so in immer neue Märkte vor. Apple als Beispiel begann mit der Computerherstellung, heute produziert das Unternehmen u. a. Handys, Tablets, Uhren etc.
2. Senkrechte Expansion: Eine Superstar-Firma schaut sich ihre Lieferanten genau an und kauft die relevantesten auf («bring them in-house»). Bei Google hiess das Übernahme seiner Werbeagenturen, dann kam der Kauf von YouTube, um den Bereich Werbung zu stärken. Es folgten geografische Landkartenhersteller – heute Google Maps –, Spielproduzenten, Fotopublikation, Computerprozessoren, Stimmerkennung, Reise- und Musik-Streaming.
3. Dank riesigen, angehäuften Vermögen werden Forschung und Entwicklung (F+E) forciert, um völlig neue technologische Erfindungen zu machen und deren Märkte von Beginn an zu dominieren. Schliesslich kommt die Firmenstrukturänderung: Alles wird unter eine Dachholding gepackt (Google beispielsweise gehört heute zu Alphabet).
Wachstum, schnelles Wachstum, blitzschnelles Wachstum
Das Wachstumstempo entscheidet über alles, «blitzscaling» heisst die Devise. Unternehmer, die das kapiert haben, agieren völlig anders als die Titanen der alten Industrie. Wir erkennen in diesem Vorgehen ein neues Paradigma. Die zukünftigen Wirtschaftsgiganten werden dominante Positionen einnehmen, Monopolstellungen.
Neue Monopolisten
Dieses Expansionsdogma hat drei neue Problemkreise geschaffen. Erstens werden kleinere, lokale Unternehmen ausgebeutet. Zweitens sieht Azhar eine zunehmende Tendenz der sich verlangsamenden Dynamik. Drittens greifen solche Firmenkolosse ins gesellschaftliche Leben ein – berechtigterweise wollen einzelne Staaten, in denen eine «Unlimited Company» tätig ist, auch entsprechende Steuereinnahmen generieren.
Der Abgrund der «Exponentiellen Lücke» («The Chasm of the Exponential Gap»)
Warum unterschätzen wir das Tempo des exponentiellen Wechsels? Wir sind es gewohnt, linear zu denken. Wir entwickelten uns in der Vergangenheit in einer linearen Welt und unsere Erfahrungen basierten darauf. Im «Exponentiellen Jahrhundert» gilt das jetzt nicht mehr. Das Wichtigste für Unternehmen wird neu die Verarbeitung von Informationen durch die Computerisierung. Jene Unternehmen, welche die atemraubende Geschwindigkeit des Wechsels kapiert haben, starten durch.
Nehmen wir Amazon. Das Herz des fulminanten Wachstums ist ihre Abteilung «Forschung und Entwicklung». 2019 belief sich das Budget auf sagenhafte 36 Milliarden Dollar jährlich, 2009 waren es noch 1,2 Milliarden gewesen (zum Vergleich Roche im Jahr 2018: 12 Milliarden Dollar). Amazon ist nicht allein unterwegs: Die neuen «digitalen Giganten» wie Uber, Alibaba, Spotify, Tik Tok, Tesla nutzen alle die neuen Chancen der ungestümen Tätigkeitsausweitung in neue Geschäftsbereiche. Damit wird der Unterschied zwischen herkömmlichen und exponentiellen Firmen, als Konsequenz des Eintritts in die «Exponentielle Zeit», deutlich. Dies alles wird jedoch unweigerlich zu extremen Spannungen führen, die sich als schädlich erweisen könnten.
Überforderte Institutionen
Das angeschlagene Tempo des Wechsels überfordert weltweit die Bevölkerung, insbesondere die Politik. Deren Institutionen sind es gewohnt, sich in kleinsten Schritten zu bewegen (wenn überhaupt!). Radikale Erneuerungsprozesse, die sich früher über Jahrzehnte entwickelten, benötigen jetzt Jahre, oft nur Monate. Damit sind wir bei der «Exponentiellen Lücke», dem Abgrund, der sich zwischen der technologischen Entwicklung und der tendenziellen Langsamkeit des institutionellen Wechsels öffnet. Unsere Gewohnheiten, Regierungen, Geschäftsphilosophien verharren, sie sind statisch.
Auch wir in der Schweiz müssen umdenken. Unsere sozialen Institutionen, unser Bundesrat und das Parlament, wir alle müssen einen Gang höher schalten. Konkret im Fall der Schweiz: Unsere politische Reformunfähigkeit, das endlose Zerreden von überfälligen neuen Lösungen – die letzten Ruinen des vergangenen Zeitalters –, muss ein Ende haben. Dazu sind natürlich auch Verfassungsänderungen notwendig, je schneller, desto besser.
Am Beispiel der OECD-Reform einer globalen Mindeststeuer von 15 Prozent für Konzerne erleben wir aktuell eine solche Aufholjagd, das erste Beispiel einer weltweiten Reaktion auf die Tendenz der «Unlimitierten Firmen», sich rasant auszudehnen und dabei nationale Gesetze zu überfordern oder auszuhebeln. Unser Land wurde damit überrumpelt, «das konnte niemand voraussehen», heisst es. Das ist eine klägliche Ausrede: Wer sich auf das «Exponentielle Zeitalter» einlässt, kommt zwar ausser Atem, wird aber nicht einfach auf dem falschen Fuss erwischt
Der exponentiellen Entwicklung kann nicht mit althergebrachten Verboten oder Feuerwehrübungen im Nachhinein begegnet werden. Gefragt sind neue demokratische Prinzipien mit Anreizen, die auch exponentiell mithalten.
Blick in die Zukunft
Was ich hier zusammengetragen habe, ist die Kurzfassung zweier Kapitel; das Buch gliedert sich in deren acht. Entsprechend gross ist die Menge an Neuem, die Informationsdichte ist enorm.
Prägend ist der Eindruck, dass uns die exponentiellen Technologien immer «mehr aus weniger» geben. Und dass diese Entwicklung mit jedem Jahr mehr computergelieferte Resultate bei tendenziell sinkenden Energiekosten liefert. Azhar: «Diese Technologien erzielen mehr beeindruckende Sachen mit weniger Material für weniger Geld.»
Wenn wir uns vorstellen, dass in einem Jahrzehnt Computerenergie hundertmal billiger sein wird und dass wir für einen Franken hundertmal mehr Computerleistung erhalten werden – dies alles, so meint selbst der Autor, ist nicht leicht zu verstehen. Er verweist auf drei Themen, die uns beschäftigen werden. Erstens: Die unglaubliche Menge an Energie und Material heisst nicht, dass es keine Abfälle, keine Verschwendung mehr geben wird. Zweitens könnte sich die rasante Entwicklung destabilisierend auswirken. Drittens gibt die Machtkonzentration dieser Giganten zu denken, selbst Regierungen werden mehr und mehr abhängig.
Neue Tugenden
Um die Lücken zwischen dieser fulminanten technologischen Entwicklung und der zurückgebliebenen Gesellschaft zu füllen, wird es neue gesellschaftliche Richtlinien, soziale Gefässe und neue politische und ökonomische Organisationsformen brauchen.
Diese – quasi ein neuer Werkzeugkasten – sind dringend notwendig, wenn wir uns nicht die Finger verbrennen wollen, so der Autor. Einerseits wird der Zusammenhalt zwischen den Menschen entscheidend sein – weder die Wirtschaft noch die Politik können das allein bewerkstelligen. Andererseits müssen Resilienz, neue Formen der Wohlfahrt – «flexicurity» – entwickelt werden.
Wir müssen bei der Modellierung der gewünschten zukünftigen, aus der aussergewöhnlichen Kraft des technologischen Wandels geformten Welt auf den menschlichen Einfallsreichtum vertrauen.
Fazit
Die Fülle der technologischen Neuerungen, die uns erwartet, ist gewaltig. Dies aufzuzeigen ist dem Autor eindrücklich gelungen. Erst andeutungsweise zeichnen sich Wege ab, wie wir diesen Entwicklungsschub bewerkstelligen werden. Denn die Technik ist das eine, der Mensch das andere. Was wir hingegen ändern können, ist, die Unvorhersehbarkeit des abrupten Wandels zu entschärfen. Dies hiesse dringend neue Schulfächer einzuführen, andere als nur vergangenheitserprobte. Zukünftige Generationen müssen, um klar zu bleiben, nicht mehr Texte und Geschichtsdaten auswendig lernen; sie müssen von klein auf «Exponentielles Denken» lernen.
*Azeem Azhar: «Exponential – How Accelerating Technology Is Leaving Us Behind and What to Do About IT» (Random House Business), 2021, 340 Seiten