Der Migrationsdruck nimmt immer mehr zu und umso schärfer werden die Massnahmen dagegen. Das Thema der Menschenrechte tritt zunehmend in den Hintergrund. Ist die Zeit dafür abgelaufen? Allerdings haben die Menschenrechte stets nur eingeschränkt und mit gravierenden Ausnahmen gegolten.
Im Zuge der als immer dringlicher angesehenen Abschiebungen von straffälligen Ausländern wird in Deutschland von führenden Politikern zunehmend die Möglichkeit ins Spiel gebracht, darüber Gespräche mit den Taliban und mit Syriens Machthaber Baschar al-Assad aufzunehmen. So sagte Friedrich Merz in der Welt am Sonntag: «Ich rate dazu, dass Deutschland direkte Verhandlungen mit den Machthabern in Afghanistan und Syrien über die Rücknahme ihrer Staatsbürger aufnimmt.» Ähnliches hörte man in diesen Tagen vom aussenpolitischen Sprecher der FDP, Ulrich Lechte, und, noch etwas gewunden, von Nils Schmid, der sich für die SPD-Fraktion zur Aussenpolitik äussert.
Vordergründig geht es bei diesem Kurswechsel darum, insbesondere den Demagogen der AfD nicht das Feld zu überlassen. Einzelne Politiker der Ampel-Parteien und der CDU/CSU wollen Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit beweisen, indem sie das bislang Undenkbare zur Diskussion stellen. Das sieht aus wie ein Tabubruch, aber Europa hat in den vergangenen Jahren stillschweigend bereits zahlreiche Tabus gebrochen:
Die EU zahlt Unsummen an die Türkei, an Tunesien, Libyen, Marokko und Ägypten, damit diese Länder alles tun, um Flüchtlinge daran zu hindern, Europa so nahe zu kommen, dass sie hier zum Problem werden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass dabei zum Teil mit äusserster Brutalität vorgegangen wird: Vertreibungen von Fluchtwilligen in die Wüste, Pushbacks, Misshandlungen von Flüchtlingen in Lagern. Wer es wissen will, kann es wissen, aber die meisten Europäer wollen es nicht wissen, und so ist es für sie gut und recht, wenn es ausser Sichtweite geschieht.
Die Heuchelei und das Scheitern
Überhaupt hat man sich seit vielen Jahren in der Heuchelei eingerichtet, indem bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor der «Gefährlichkeit» der Überfahrten insbesondere des Mittelmeers gewarnt wird. Politiker tun gewöhnlich so, als fühlten sie mit den armen Flüchtlingen mit, als möchten sie sie warnen und nach Möglichkeit alles erdenklich Gute für sie tun. Aber keiner dieser Mitgefühl Heuchelnden käme auf die Idee, statt der «gefährlichen Überfahrt» einigermassen sichere oder gar komfortablere Reisemöglichkeiten anzubieten. Wer das täte, müsste nicht nur um seine Wiederwahl, sondern auch um seine persönliche Sicherheit fürchten.
Der Westen ist gleich doppelt gescheitert. Er kann seine eigenen Massstäbe der Humanität an den Aussengrenzen nicht mehr wahren, und er muss mit Regimen einschliesslich der Taliban oder Assads verhandeln, die er jahrelang im Namen der Menschenrechte bekämpft oder zumindest geächtet hat. Die EU muss diesen Schritt gehen, weil sich sonst in den einzelnen Mitgliedsländern unbeherrschbare Spannungen aufbauen, die ihre demokratischen Strukturen zerstören.
Sind die Menschenrechte damit an ihr geschichtliches Ende gekommen? Lassen sie sich in der heraufziehenden neuen Weltordnung nicht mehr wirksam durchsetzen? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Menschenrechte nie in reiner Form zur Geltung kamen. Als sie von Frankreich im Zuge der Revolution von 1789 proklamiert und in die Verfassung aufgenommen wurden, hielt man selbstverständlich an den Kolonien und der Sklavenarbeit fest. Auch ausserhalb Frankreichs blühte der Sklavenhandel. Gleichzeitig formulierte Immanuel Kant seine feinsinnigen Untersuchungen zur Ethik, die im kategorischen Imperativ ihren prägnantesten Ausdruck fanden. Dieser Widerspruch wurde von den damaligen Lesern, die sich in den Kaffeehäusern an den Produkten aus den Kolonien und den Plantagen gütlich taten, nicht als störend empfunden. Und Georg Friedrich Händel legte Geld in Unternehmen an, die am schwunghaften Sklavenhandel verdienten.
Festhalten am Ideal
Gegenwärtig gibt es eine heftige Diskussion über Carl Schurz, der einer der bedeutendsten Köpfe während der demokratischen Revolution von 1848 in Deutschland war, nach Amerika ging und dort im Sezessionskrieg für die Rechte der verschleppten Sklaven kämpfte. Neuere Forschungen brachten nun ans Licht, dass er in seinem späteren Wirken die Seiten gewechselt hat. Entsprechend soll er jetzt «neu bewertet» werden, und der Bundespräsident hat die geplante Aufstellung einer Schurz-Büste im Schloss Bellevue abgesagt.
Könnte es nicht auch sein, dass Carl Schurz deswegen einen Kurswechsel vollzogen hat, weil er die Schrecken des Bürgerkrieges hautnah erlebt hat und ein Wiederaufflammen fürchtete? Wir wissen es nicht, aber das Beispiel zeigt, dass die Menschenrechte in kritischen Situationen in die zweite Reihe treten können. Jetzt fürchtet man in Europa, dass das generelle Festhalten an den Menschenrechten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen könnte, die die freiheitlichen und demokratischen politischen Ordnungen zerstören.
Das Ideal der Menschenrechte wird nicht dadurch widerlegt, dass zeitweilig dagegen verstossen wird. Es würde erst dann an Geltung verlieren, wenn sich keine Menschen mehr fänden, die trotz aller Kompromisse und menschenrechtswidrigen Praktiken an ihm festhielten. Das ist die schärfste Entgegensetzung zu rechtsradikalen Parteien, die mit diesem Ideal nichts anfangen können und es ganz abschaffen möchten.