Die an-Nahda (Renaissance) Partei hat 41,41 Prozent der Stimmen in den tunesischen Wahlen gewonnen, was ihr 90 Sitze in der Verfassungsversammlung von 217 Mitgliedern verschafft. Sie verfehlt damit knapp die absolute Mehrheit von 109 Sitzen. Die Zahlen können sich noch geringfügig ändern, weil noch ein Disput gelöst werden muss und weil noch Nachprüfungen fällig sein könnten. Doch das Hauptresultat einer relativen Mehrheit für an-Nahda kann als sicher gelten.
Zwei Linksparteien nach Nahda
Die beiden zweitgrössten Stimmanteile gehen an säkularistische Gruppierungen links von der Mitte. Die Partei des Arztes und Menschenrechtlers Moncef Marzouki, "Kongress für die Republik" (CPR), erhält 30 Sitze. Marzouki hat viele Jahre lang im Exil in Paris gelebt. Die Linksverbindung, et-Takattol (Zusammenschluss), die auch unter dem langen Namen: "Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit", bekannt ist, kommt auf 21 Sitze. Die Zentrumspartei PDP, die in den Umfragen den zweiten Platz besetzt hatte, blieb weit zurück mit weniger als 10 Sitzen.
Demagogie eines Fernsehpatrons aus London
Als die viertgrösste Partei war die sogenannte "Arida Chaabiaya", "Volks Petition", mit 19 Sitzen aus den Wahlen hervorgegangen. Doch sechs davon wurden von der Wahlkommission wegen finanzieller Unregelmässigkeiten als ungültig erklärt. Daraufhin erklärte der Gründer der "Volks Petition", der in London lebende Geschäftsmann, Hachemi Hamdi, er ziehe all seine Listen zurück. Ob er das kann, ist jedoch zweifelhaft, da die 13 nicht ungültigen Wahlgewinner seiner Partei als gewählt gelten müssen. Proteste brachen in der Heimatstadt Hamdis aus, in Sidi Bouzid und ihrer Umgebung, wo die Partei beliebt war.
Die bittere Armut im Inneren Tunesiens
Sidi Bouzid ist berühmt geworden als Ausgangsstadt der tunesischen Revolution, wo der Universitätsabsolvent und Gemüsehändler, Mohammed Bouazizi, Feuer an sich gelegt hatte und sein Leben liess. Der Parteigründer Hamdi ist auch der Besitzer der Fernsehstation "al-Mustaqilla" (die Unabhängige), die von London aus operiert, und er hatte diese Station benützt, um eine Kampagne von verlockenden Versprechen und Verheissungen zu führen, die offenbar in der besonders verarmten und vernachlässigten Region des Inneren Tunesiens, zu der Sidi Bouzid gehört, ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.
Gewaltakte der Enttäuschten
Es kam zu Demonstrationen und Gewaltakten, und die Polizei griff mit Tränengas ein. Auf den Listen der "Volks Petition" hatten Geschäftsleute kandidiert, die vor der Revolution dem Regime Ben Alis nahe gestanden waren und dank dieser Verbindungen reich geworden waren. Wie ihre 13 verbleibenden Sitze nun endgültig besetzt werden, ist noch unklar.
Die Episode von Hamdi und seinem demagogischen Fernsehen stellt eine Warnung dar, die drastisch das illustriert, was ohnehin schon bekannt war und auch oft erwähnt wurde, nämlich, dass es im Lande - und besonders in den vernachlässigten Innenprovinzen - viele Leute und vor allem viele Jugendliche gibt, die bitter darüber enttäuscht sind, dass die von ihnen ins Rollen gebrachte Revolution nicht sofort eine wirtschaftliche Besserstellung und Arbeitsplätze für sie gebracht hat. Viele dieser Leute sind offenbar Opfer der Fernsehkampagne aus London und ihrer verlockenden Versprechen geworden.
Die dringenden Forderungen der Arbeitslosen
Alle Parteien sind sich bewusst, dass das Grundproblem der Arbeitslosigkeit dringend angepackt werden muss. Doch ihre Programme, wie etwa jenes der Siegerpartei, an-Nahda, suchen realistisch zu bleiben, und sie sprechen von Zeiträumen bis zu 5 Jahren, in denen versucht werden soll, der Problematik der Arbeitslosigkeit Herr zu werden.
Nahda sucht Koalitionspartner
An-Nahda hat bereits erklärt, sie habe Koalitionsverhandlungen begonnen. Innerhalb eines Monats sollten sie zu einer neuen Regierung führen. Ihr Kandidat für den Regierungsvorsitz sei Hamadi Jabali, der gegenwärtige Parteisekretär von Nahda. Der in Frankreich ausgebildete Elektroingenieur Jabali hat unter Ben Ali 15 Jahre im Gefängnis verbracht, mehr als 10 davon in Einzelhaft.
Viele Beobachter begrüssen den Umstand, dass an-Nahda nun darauf angewiesen ist, im Rahmen einer Koalition zu arbeiten, weil dies eine Garantie dafür biete, dass die eher säkulär orientierte Hälfte der Tunesier nicht ignoriert und kalt gestellt werden kann. Dies ist besonders wichtig, weil ja die Hauptaufgabe der nun gewählten Versammlung darin besteht, innert Jahresfrist eine neue demokratische Verfassung für Tunesien, das heisst für alle Tunesier, auszuarbeiten.
Nicht wie FIS in Algerien
Die Pariser Zeitung "Le Monde" erinnert an die Vorfälle von Algerien vom Jahresbeginn 1992. Damals gab es echte Wahlen in Algerien. Im ersten Wahlgang erlangten die Islamisten der damaligen FIS Partei (Front Islamique du Salut) die absolute Mehrheit. Es wurde befürchtet, sie könnten im zweiten sogar auf eine Zwei Drittelmehrheit kommen, was ihnen erlaubt hätte, die Verfassung Algeriens auf eigenes Befinden zu verändern. Doch es kam nicht dazu. Die Armee griff mit einem Putsch ein. Staatschef Chadli wurde abgesetzt und die FIS verboten. Daraus sollte sich in der Folge ein grausamer Bürgerkrieg entwickeln der über 10 Jahre lang dauerte und gegen 160 000 Menschen das Leben kostete.
Kein Alleingang von Nahda
Vor diesem Hintergrund ist sicher zu begrüssen, dass die islamische Partei von Tunesien nun nicht ein absolutes Mehr erlangt hat und schon aus diesem Grunde auf die Mitarbeit der Säkularisten angewiesen ist, sowohl in den Arbeiten für die neue Verfassung wie auch bei der Regierungsbildung.
Die Erinnerungen an die algerischen Wirren - in Europa schon eher vergessen - sind im Maghreb noch sehr präsent.
Es ist bei solchen Erinnerungen allerdings auch anzumerken, dass die Mentalität der islamischen Parteien sich seit jener Zeit stark verändert hat. Bei den Politikern der FIS handelte es sich um Vorkämpfer der islamistischen Ideologie, die einen islamischen Staat streng nach dem Gottesgesetz des Islams, der Schari'a, anstrebten. Die heutigen Islam Politiker der Nahda sind Demokraten, die ein "demokratisches System mit islamischen Referenzwerten" verwirklichen wollen.
Ghannouchi wirbt für islamische Demokratie
Wie schon vor den Wahlen ist Rachid Ghannouchi, der Gründer und Präsident von Nahda, weiterhin darauf bedacht, die Befürchtungen und Bedenken der Säkularisten zu beschwichtigen. Er und seine Sprecher betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie nicht gedächten, ein islamisches oder islamistisches Regime einzuführen. Jeder Mann und jede Frau werde weiter frei bleiben, sich zu kleiden, wie sie es wollten. Die Bikinis der Feriengäste an den Stränden würden nicht verboten und auch ihr Alkohol nicht. Den Banken werde kein islamisches Zinsverbot aufgezwungen. Allerdings könnte es erhöhte Steuern auf Alkohol geben, "genau so wie auf Zigaretten".
Ghannouchi erklärt, seine Partei sei nicht "islamistisch" sondern "islamisch und demokratisch", und dies bedeute, dass ihr der Islam als moralische Inspiration diene, "vergleichbar mit der Christlichen Demokratie in Deutschland."
Stolz auf den gelungenen Übergang
Der Umstand, dass die Wahlen recht glatt und auch zur ausdrücklichen Zufriedenheit der internationalen Wahlbeobachter verliefen, ist für viele Tunesier ein Grund des Stolzes und der Befriedigung. Ihr kleines Land ist nicht nur jenes, das den arabischen Frühling ausgelöst hat; es erwies sich nun auch als das, das zuerst die erste Etappe eines Übergangs zur Demokratie erfolgreich bewältigt hat.
Ein Leuchtturm für die arabische Welt
Dass dies in Tunesien gelungen ist, dürfte in der Tat nun auch den Demokraten in Ägypten und in Libyen Auftrieb gewähren und könnte auch die noch immer trotz vielen Erschossenen und Gefolterten zäh fortdauernden Protestbewegungen in Jemen und in Syrien ermuntern.
Auch auf die protestierenden Gruppen in Ländern wie Marokko, Jordanien, Oman, Algerien, wo die Protest- und Demokratie-Bewegungen sich nur periodisch zu äussern vermögen, ohne bisher die Strasse erobert zu haben, wird der Erfolg der Tunesier belebend wirken. Sogar in Bahrain, wo die Proteste trotz grausamer Niederhaltung durch die bahrainischen und saudischen Truppen fortschwelen, dürften die erfolgreichen Wahlen im fernen Tunesien Anstoss zu wiederbelebten Hoffnungen geben.