Erdoğans Kandidat hat Ende März die Bürgermeisterwahl in Istanbul knapp verloren. Für den Präsidenten bedeutet das Ergebnis einen schweren Gesichtsverlust. Das akzeptiert er nicht, spricht von Wahlfälschung und lässt am 23. Juni erneut wählen.
Damit geht er ein Risiko ein. Erdoğan regiert die Türkei wie ein Sultan. Er knebelt Medien und die Justiz. Dass er jetzt demokratische Entscheide umstösst, geht vielen nun doch zu weit. Die Wahlwiederholung könnte deshalb eine ungeahnte Mobilisierung der demokratischen Kräfte auslösen. Die Gegner des Präsidenten rechnen damit, dass die Wahlbeteiligung am 23. Juni erheblich höher sein wird als während des ersten Wahlgangs im März. Istanbul ist nicht die Türkei, sowenig wie New York die USA ist. Die Bewohner der grössten türkischen Metropole sind aufgeklärter, selbstbewusster, kritischer und informierter als die Leute in Anatolien.
Erdoğan und sein Bürgermeisterkandidat gehen mit einer grossen Hypothek in die Wiederwahl. Der türkischen Wirtschaft geht es schlecht, das Land steckt in der Rezession, die Lira fällt. Ausländische Investoren zögern, die Zukunftsaussichten sind trübe. Das Land ist mehr und mehr isoliert.
Für einmal treten die Oppositionsparteien geeint auf – geeint gegen Erdoğan. Zudem kriselt es in Erdoğans AK-Partei. Längst nicht alle sind mit der Wahlwiederholung einverstanden. Schon spricht man von einer möglichen Parteispaltung. Zu seinen Gegnern gehören prominente einstige Weggefährten: Abdullah Gül, der frühere Präsident, und Ahmet Davutoğlu, der frühere Ministerpräsident – und zahlreiche andere.
Der Sultan ist verwundbar geworden. Dass er jetzt im Hinblick auf die Istanbul-Wahl sogar seinen Erzfeinden, den Kurden, Avancen macht, zeigt, in welch desperater Lage er ist. Doch niemand soll sich der Illusion hingeben, Erdoğan werde eine Niederlage akzeptieren. Er wird wohl alle Hebel in Bewegung setzen, um das Ergebnis zugunsten seines Kandidaten zurechtzubiegen. Ob das gelingt, ist fraglich. Die Opposition schickt Tausende zusätzlicher Wahlbeobachter in die Wahllokale.
Doch selbst wenn Erdoğans Kandidat gewinnt – zu Recht oder zu Unrecht – wird sich der Präsident dem Vorwurf der Manipulation aussetzen. Und dann sind heftige Proteste zu erwarten, Strassenschlachten vielleicht sogar – etwas, das sich der Präsident nicht leisten kann. Denn die serbelnde Wirtschaft und die Investoren bräuchten ruhige, stabile Verhältnisse.