Ein paar tausend oder zehntausend Stimmen könnten entscheiden, ob Putin in der Ukraine triumphiert. Das ist beängstigend.
Alle erwarten bei den amerikanischen Wahlen ein Ergebnis auf Messers Schneide. Zwar zählen die USA 333 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Doch von ganz wenigen Stimmen in den Swing States könnte es abhängen, wie es nicht nur in den USA, sondern auch in der Weltpolitik weitergeht.
Wir erinnern uns an den November im Jahr 2000. Damals wurde in Florida entschieden, dass George W. Bush neuer amerikanischer Präsident wird. Es war das knappste Ergebnis in der Geschichte der USA. Der Republikaner Bush lag nach langem Hin und Her und nach einer richterlich angeordneten Neuauszählung 537 Stimmen vor dem Demokraten Al Gore. 537 Stimmen mehr reichten, um 43. amerikanischer Präsident zu werden!
Könnte es diesmal ähnlich knapp werden? Landesweit liegt Harris in den Umfragen knapp drei Prozent vor Trump. Doch das zählt nicht. Was zählt, sind die Ergebnisse in den sieben hart umkämpften Swing States Pennsylvania, Michigan, Nevada, Wisconsin, North Carolina, Georgia und Arizona. Dort, wie in den meisten anderen Bundesstaaten, gilt das Prinzip «Winner-take-all». Das heisst, wer am meisten Stimmen erhält, kann alle Elektoren (Wahlmänner und Wahlfrauen), über die ein Gliedstaat verfügt, an sich binden. Theoretisch also könnte eine einzige Stimme entscheiden, an wen alle Elektoren eines Gliedstaates gehen; im Falle von Pennsylvania wären es deren 20. Die Elektoren sind es dann, die nach den Wahlen den Präsidenten oder die Präsidentin wählen.
In den sieben Swing States liegen 30 Tage vor den Wahlen beide Kandidaten ganz eng beisammen – getrennt gemäss Umfragen je nach Gliedstaat von nur 0,5 bis 2,8 Prozent, was innerhalb der statistischen Fehlermarge von plus/minus 3 Prozent liegt. Es ist also alles offen. Ein paar wenige Stimmen könnten ausschlaggebend sein, wer künftig im Weissen Haus sitzt.
Pennsylvania mit seinen 20 Elektorenstimmen ist besonders umstritten und könnte eine Schlüsselrolle spielen. Viele sagen, wer in Pennsylvania gewinnt, gewinnt die Wahlen. Nach dem gelungenen Auftritt von Kamala Harris in der TV-Debatte mit Donald Trump hatten die Demokraten gehofft, die Vizepräsidentin hätte Wind in den Segeln und würde stark zulegen. Aber gerade in Pennsylvania ist ihr Aufschwung eher bescheiden. Laut dem Umfrage-Spezialisten Nate Silver hat Harris in Pennsylvania einen Vorsprung von 0,8 Prozent. Das Institut YouGov und die Washington Post sehen beide Kandidaten gleichauf. Alles ist offen.
Doch ein paar wenige Wählerinnen und Wähler könnten nicht nur über die amerikanische Präsidentschaft entscheiden, sondern über den künftigen aussenpolitischen Kurs der USA. Also: Ein paar Wenige könnten Weltpolitik machen.
Harris und Trump haben innenpolitisch und bei verschiedenen weltpolitischen Themen, so beim Nahen Osten, unterschiedliche Positionen. Doch nirgends ist die Diskrepanz so grundverschieden wie beim Thema Ukraine.
Kamala Harris will, wie Joe Biden, die Ukraine den Russen nicht preisgeben. Sie kritisiert die russische Aggression und will Putin die Stirn bieten. Immer wieder beteuert sie ihre Unterstützung für das kriegsgeschädigte Land. Auf dem Bürgenstock sagte Harris: «Wir unterstützen die Ukraine nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil die Zukunft des ukrainischen Volkes in unserem strategischen Interesse liegt.» Und: «Als Präsidentin werde ich fest an der Seite der Ukraine und unserer Nato-Partner stehen.»
Ganz anders Trump. Er prahlt, er würde den Ukraine-Krieg über Nacht, innerhalb von 24 Stunden, beenden. Dazu würde er kurz nach der Wahl Putin treffen und ein Friedensabkommen erreichen. Das ginge ja wohl nicht, ohne dass er Putin riesige territoriale Zugeständnisse machen würde. Das wäre dann wohl das Ende der bisherigen Ukraine. Und es wäre eine Bedrohung für andere osteuropäische Staaten und für Westeuropa.
Zwar ist man sich an Trumps grosse Töne gewohnt, doch im Ukraine-Konflikt hat er so viel versprochen, dass er ja etwas liefern muss, um glaubwürdig zu bleiben.
Einige weisen darauf hin, dass Trump ein flatterhafter Lügner und unberechenbar ist – und dass es dann doch anders kommt. Doch ganz so flatterhaft ist Trump nicht. Es gibt bei ihm wichtige Konstanten. Immer wieder hat er gezeigt, dass ihm die Ukraine eigentlich egal ist. Mit seiner «America first»-Politik fährt er einen isolationistischen Kurs. Der Nato und den europäischen Verbündeten steht er kritisch gegenüber. Von Bündnisverpflichtungen hält er nicht viel. Ein Sieg Trumps wäre nicht nur eine Bedrohung für die Ukraine, sondern auch für die Nato. Unter Trump würde Putin in der Ukraine sicher nicht gebremst werden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Ex-Präsident für starke Männer, auch für Diktatoren wie Putin, eine gewisse Bewunderung empfindet.
Für die Ukraine ist es also überlebenswichtig, wer am 5. November die Präsidentschaft gewinnt.
Natürlich befände sich Putin auch nach einer Wahl von Kamala Harris noch immer am längeren Hebel. Im Westen hat sich eine Ukraine-Lethargie breitgemacht. Die westlichen Waffenlieferungen geraten ins Stocken, die westliche Solidarität bröckelt. Doch ohne dringend benötigtes westliches Kriegsmaterial ist die Ukraine chancenlos. Kamala Harris hätte es wohl schwer, den republikanisch dominierten Kongress dazu zu bewegen, weitere milliardenschwere Mittel für die Ukraine zu bewilligen.
Und dennoch: Mit Harris bestünde immerhin die Chance, dass die USA die Ukraine nicht fallen lassen. Mit Trump besteht diese Chance kaum.
Ein paar tausend Stimmen, ein Zufallsmehr, könnte am 5. November entscheiden, ob der heroische Kampf der Ukraine und die einst beispiellose Solidarität des Westens mit dem überfallenen Land vergebens waren.