Neuerdings diskutieren Ökonomen und Politiker weltweit vermehrt eine gewagte Geldtheorie. Staaten mit eigener Währung sollen sich demzufolge grenzenlos verschulden können, da sie ja ihr Geld bei Bedarf selbst drucken. Viele Politiker und Ökonomen sind entsetzt. Worum geht es?
Modern Monetary Theory (MMT)
Bereits vor mehr als 20 Jahren plädierte in den USA, genauer im Journal of Post Keynesian Economics (JPKE), der umstrittene Ökonom, Ingenieur, Politiker und Hedge Fonds Gründer Warren Mosler, geboren 1949, für nicht weniger als eine 180-Grad-Umkehr in der Wirtschaftspolitik. Seiner Überzeugung nach wären die Zentralbanken mit ihrer Zinspolitik für grassierende Arbeitslosigkeit verantwortlich. Explizit ist er der Meinung, dass keine Krise so gross wäre, als sie nicht durch die Geldschöpfung des Staates überwunden werden könne.
Er begründete diese Theorie damit, dass der Staat als Monopolist über die eigene Währung seine Aufgaben nicht finanziert, sondern dass er de facto Schöpfer dieser Währung ist. Während in den USA Fachkonferenzen regelmässig tagten und diese Idee diskutierten, fand auf europäischer Ebene erstmals 2019 in Berlin an der EBC Hochschule eine solche statt.
Bernie Sanders und die Schuldenpolitik à la USA
Dass eine solche Theorie aus den USA stammt, mag niemanden überraschen. Dieses Land, das seit Jahrzehnten viel mehr Geld aus- als einnimmt, weist gegenwärtig eine Staatsverschuldung von über 22 Billionen Dollar auf und diese wächst seit 40 Jahren unaufhörlich. Zum Vergleich: Die US- Staatsverschuldung beläuft sich auf 106 Prozent des Bruttoinlandprodukts (Japan 236 Prozent, Griechenland 182 Prozent, Italien: 131 Prozent, Portugal 126 Prozent, Schweiz: 42 Prozent). Die EU-Mitgliedländer Griechenland, Italien, Portugal kennen nur den Euro, haben also – im Unterschied zur Schweiz – keine eigene Währung mehr.
In den USA zählt der 2016 unterlegene, aber 2020 erneut für die Präsidentschaft kandidierende Bernie Sanders, Jahrgang 1941, vom linken Flügel der Demokratischen Partei zu den erklärten Befürwortern dieser Theorie. Er wird tatkräftig unterstützt von seiner Beraterin Stephanie Kelton. Bekanntlich plädieren die Progressiven für ein Investitionsprogramm, das ein Hochschulstudium gratis anbieten soll, ebenso für eine allgemeine Krankenversicherung. Da kommt natürlich die Idee der MMT wie gerufen.
„Staatsdefizite sind keine Katastrophen“
Stephanie Kelton, Starökonomin, versorgt also den unermüdlichen Präsidentschafts-Kandidaten Bernie Sanders mit den notwendigen sozioökonomischen Daten, wie sie in einem Interview bestätigt (NZZ). Sie plädiert mit grosser Überzeugungskraft für diese MMT. Staatsdefizite kümmern sie in keiner Weise. Ein ausgeglichener Staatshaushalt ebenso wenig.
Dass sie riesige Ausgabenpositionen auf ihr Land zukommen sieht (Klimawandel, Infrastruktur-Sanierung, Forschung, Bildung etc.), ist das Eine, Anwerfen der Dollar-Druckpresse das Andere. Sie begründet diese Haltung damit, dass sie, dank MMT überzeugt davon ist, das Staatsdefizit finde „automatisch die richtige Grösse“. Diese „richtige Wirtschaftspolitik“ produziere höhere Einkommenssteuern und lasse damit die Defizite schrumpfen.
Da fragt sich der einfach denkende Publizist in der kleinen Schweiz: Und wenn dem nicht so wäre, was dann? Was, wenn diese „richtige Wirtschaftspolitik“ sich als Fata Morgana herausstellen würde? Was, wenn sich die Inflation als Folge des konfusen Konzepts nicht durch Steuererhöhungen kontrollieren liesse? Wenn die nächste Krise trotzdem käme?
In Venezuela funktioniert es nicht
Namhafte Stimmen bezeichnen die MMT als „polemische Politik für Depressionszeiten“. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass Vollbeschäftigung und stabile Preise keineswegs durch MMT garantiert werden können. MMT-ähnliche Politikvorstellungen werden für die Hyperinflation in den lateinamerikanischen Staaten (z. B. Venezuela) verantwortlich gemacht. Der bekannte US-Ökonom Paul Krugman bezeichnet denn auch die MMT als „Rezept für sehr hohe Inflation, vielleicht gar Hyperinflation“.
Der internationale Währungsfonds (IWF) seinerseits wies im April 2019 darauf hin, dass Staats- und Privatverschuldung seit der Finanzkrise 2008 weitergewachsen seien. Käme es erneut zu einer Wirtschaftsflaute, worauf verschiedene Indikatoren hinweisen, wäre das brandgefährlich. In Krisenzeiten würde die Verschuldung automatisch weiterwachsen. Die Notenbanken haben aber inzwischen ihre Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft. Sie haben innerhalb der letzten zehn Jahre ihr Pulver verschossen. Diese Einschätzung widerspiegelt die Haltung des IWF – offensichtlich hält er nichts von den hochgepriesenen MMT-Lobliedern.
Und was passiert in der Schweiz?
Die Idee, dass ausufernde Staatsschulden gar nicht so schädlich wären, ist für Schweizerinnen und Schweizer, die für den Grundsatz „Spare in der Zeit, so hast du in der Not“ bekannt sind, momentan nicht nachvollziehbar. Doch Achtung: Wer von uns hätte für möglich gehalten, dass uns dereinst die Notenbaken mit Negativ-Zinsen das Leben schwer machen würden? Dass Zins zu bezahlen hätte, wer Geld auf die Bank bringt?
Nicht auszuschliessen ist zum Beispiel, dass die SP demnächst mit MMT zu liebäugeln begänne. Ausgeben mit vollen Händen war für sie schon immer prioritär gegenüber der Frage, woher das Geld zu kommen hätte. Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann erhebt den Warnfinger: Bisher galt in der Makroökonomie die Regel, dass die Notenbank für die Inflationssteuerung zuständig ist. Plötzlich soll die Notenbank jetzt das Staatsdefizit decken? Diese Behauptung bezeichnet er als fahrlässig und weltfremd und wirft ihr vor, die Lehren aus der Geschichte zu ignorieren.
Die Zukunft wird zeigen, wie es mit der MMT weitergehen wird. In der Schweiz hätten wir zwar die eigene Währung, doch die parlamentarische Bodenhaftung dürfte obsiegen gegenüber utopischer Selbstüberschätzung einzelner politischer Parteipräsidenten und deren Einflüsterern.