Knapper hätte das Ergebnis kaum ausfallen können: Bisher waren alle davon ausgegangen, dass eine neue Regierungskoalition in Jerusalem die Zustimmung von mindestens 61 der 120 Knesset-Abgeordneten brauche, am Ende waren es nun aber wegen einer Stimmenthaltung nur 60 Ja- gegenüber 59 Nein-Stimmen. Die Irritation dauerte nicht lange: Enthaltung ist nicht Ablehnung, Mehrheit aber Mehrheit. Die neue Regierung war durch. Nach 12 Jahren Amtszeit musste Ministerpräsident Benjamin Netanjahu noch am Ende der langen Knesset-Sitzung am Sonntagabend die Regierungsbank räumen für die Nachfolger.
In seiner Stunden zuvor gehaltenen Rede war Netanjahu durchaus anzuhören gewesen, dass ihm der Ernst der Lage klar war, aber er versuchte es noch einmal „auf seine Art“: Erst Eigenlob, dann Beschimpfung. Unter seiner Führung sei Israel doch so erfolgreich wie kaum ein anderes Land geworden. In der Wirtschaft ebenso wie im Kampf gegen Corona. Er selbst habe doch dafür gesorgt, dass Israel schon sehr früh ausreichend Corona-Impfstoff importieren und erfolgreich Impfungen gegen die Pandemie durchführen konnte. Und auch eine Verbesserung in den internationalen Beziehungen habe das Land ihm zu verdanken. Er habe Israel doch zu Friedensverträgen („Abraham-Abkommen“) mit mehreren arabischen Staaten verholfen und damit bewiesen, dass die Formel „Land für Frieden“ nicht so erfolgreich ist wie die von ihm vorgeführte Formel „Frieden für Frieden“.
Keine Fortschritte in der Palästinenser-Frage
Kein Wort natürlich dazu, dass „Land für Frieden“ die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern betrifft und hier keinerlei Fortschritte gemacht wurden. Weil er die Zweistaatenlösung ablehnt und die Siedlungspolitik im Westjordanland unterstützt. Und es sei ihm zu verdanken, dass die USA diese Politik unterstützten. So habe Washington Jerusalem als israelische Hauptstadt anerkannt wie auch die Annexion der (syrischen) Golan-Höhen. Und es habe aufgehört, die israelischen Siedlungen als Verstoss gegen das Völkerrecht zu betrachten.
Der Name Trump kam ihm dabei nicht über die Lippen. So, als habe er, Netanjahu, die USA von seinem Kurs in Nahost überzeugt. Und als habe er sich mit seinem entschlossenen Auftreten auch gegen die USA durchsetzen können, wenn diese einmal anderer Meinung waren. Wie beim Atomabkommen mit dem Iran: Es sei seiner Entschlossenheit zu verdanken, in Washington selbst und vor der Uno gegen dieses Abkommen aufzutreten, dass die USA schliesslich einlenkten.
Schaumschlägerei
Dass dies nicht in erster Linie von ihm abhing, sondern vom Wechsel im Weissen Haus, unterschlug Netanjahu. Er hatte es zwar wegen des Atomabkommens zu einer Verschlechterung der Beziehungen zum damaligen US-Präsidenten Obama kommen lassen, der Kurswechsel in Washington erfolgte aber erst unter dessen Nachfolger Trump. So wie nach dessen Wahlniederlage unter seinem Nachfolger Biden ein breitangelegter Kurswechsel begann. Unter anderem auch in der Frage des Atomabkommens, aus dem Trump sich 2018 zurückgezogen hatte.
Der Wechsel war und ist offensichtlich, Netanjahu hat damit nichts zu tun, im Gegenteil: Seine hartnäckige Verfechtung des Trump-Kurses auch nach der Wahl Bidens hat Israel und den Nahen Osten keinen Schritt weitergebracht. So ist denn Netanjahus Forderung in der Knesset-Rede, Israel müsse sich eben auch kritisch mit den USA zu bestimmten Punkten ihrer Politik auseinandersetzen, nichts als Schaumschlägerei. Am Tag der Bestätigung der neuen israelischen Regierungskoalition dürfte sich dies an einem scheinbar unbedeutenden Fakt ablesen lassen: Biden rief noch am Abend den neuen Ministerpräsidenten, Naftali Bennett von der „Yemina“ („Nach rechts“-) Partei, an, um diesem zu seiner Amtseinführung zu gratulieren, wohingegen er sich nach seinem Einzug ins Weisse Haus mehrere Wochen Zeit liess, bevor er sich bei Netanjahu meldete, dem angeblich doch so engen Verbündeten in Jerusalem.
„Unehrlich, ungebildet, unzuverlässig“
Der Neue in Jerusalem, Bennett, kam denn auch in der Rede Netanjahus nicht gut weg. Obwohl beide lange eng zusammen gearbeitet hatten und Bennett hin und wieder selbst Nachfolge-Chancen nachgesagt wurden, zeigte Netanjahu nun, was er von seinem 49-jährigen „Nun doch“-Nachfolger hält: nichts. Bennett sei unehrlich, ungebildet und unzuverlässig. Mit solchen Eigenschaften gebe er diesem keine grossen Erfolgsaussichten, im Gegenteil: Die neue Regierung werde sich darauf gefasst machen müssen, dass ihre Existenz von kurzer Dauer ist.
„I will be back“, warnte – oder drohte – Netanjahu. In der Vergangenheit war ihm eine solche Rückkehr nach einer verlorenen Wahl tatsächlich einmal gelungen, heute dürfe solches aber fraglich sein, obwohl Netanjahus „Likud“ immer noch als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen, es ihm aber nicht gelungen war, daraus eine mehrheitsfähige Koalition zu binden. Zu sehr ist vielen Israeli inzwischen klar geworden, dass „Bibi“ es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, und viele lehnen zudem einen Regierungschef ab, der sich bereits seit Monaten in drei Korruptions-Prozessen vor Gericht verteidigen muss. Und die anderen Parteien scheinen auch aufgewacht zu sein: Besonders die religiösen und orthodoxen Parteien, die fast seit Staatsgründung immer irgendwie an der Regierung beteiligt waren, haben nun begonnen einzusehen, dass die Zeiten sich geändert haben. Netanjahu zumindest hat sie mehr als Figuren in seinem Strategiespiel benützt und heute beklagen diese Parteien sich, auf den Falschen gesetzt zu haben.
Yair Lapid, der Architekt der Regierung
Ob allerdings die neue Koalition eine bessere Adresse gewesen wäre, bleibt dahingestellt. Bennett trägt zwar die „Kipa“ der religiösen Juden, er war auch geraume Zeit Generaldirektor des (überwíegend religiösen) Siedlerverbandes im Westjordanland, er war aber nicht treibende Kraft beim Zustandekommen der Koalition. Dies war und ist Yair Lapid, ein liberaler Journalist und Ex-Minister, der gewusst haben dürfte, dass zu viele Orthodoxe in der Koalition andere abschrecken könnte. Lapid wurde deswegen zum Architekten einer seltenen, wenn nicht einmaligen Koalition aus Rechten, Liberalen und Sozialdemokraten, um nur einige zu nennen. Und einer israelisch-arabischen Partei – der ersten, die je einer Koalition beitrat.
Lapid war sich mit Bennett bereits so gut wie einig, da versuchte Netanjahu diesen wieder zu sich zu gewinnen. Einen „unfähigen und unehrlichen“ Mann wie Bennett? Dies dürfte einiges über Netanjahu aussagen. Ein anderer Partner ist „Blau-Weiss“ von Verteidigungsminister Gantz, der vor einem Jahr einen Koalitionsvertrag mit Netanjahu geschlossen hatte und diesen im Herbst als Ministerpräsident hätte ablösen sollen. Netanjahu verhinderte dies, indem er es vorher zu Neuwahlen kommen liess. Insgesamt wurde in den letzten zweieinhalb Jahren viermal gewählt. Auch dies ein Grund für viele Israeli, Netanjahus überdrüssig zu werden. Auch diesmal hatte der Premier die Taktik der Neuwahlen offenbar im Hinterkopf, aber Lapid und Bennett haben dies verhindert. Mit ihnen Gantz, der weiterhin Verteidigungsminister ist und Vizepremier. Bennett soll nun zwei Jahre Regierungschef sein und dann von Lapid abgelöst werden, der bis dahin als Aussenminister in Aktion tritt.
Ein ausgeklügeltes System, von dem freilich zu Beginn dieser Regierung niemand zu sagen vermag, ob und wie lange es erfolgreich sein wird. Unterschiedliche Ansichten gibt es in dieser Koalition genug – über israelisch-palästinensischen Frieden, über die israelische Gesellschaft, internationale Beziehungen und sicher auch die Probleme mit dem Iran.