Die Darstellung des Laufs der Mitternachtssonne in Norwegen, die entsprechend der 24 Stunden aus 24 Einzelbildern zusammengesetzt war, galt 1950 als fotografische Sensation. So etwas hatte man vorher noch nie gesehen. Nicht nur in der Schweiz wurde das Bild publiziert, sondern auch in Amerika und anderen Ländern - bis 1973 über 70 Mal. In der Schweiz fand es den Weg in die Schulbücher, so dass hier buchstäblich jedes Kind Emil Schulthess kannte.
Wer war dieser Mann? Er stammte, wie es ja häufig in den Biographien herausragender Persönlichkeiten heisst, aus „einfachen Verhältnissen“. Schlecht waren sie in seinem Fall zwar nicht, aber sie erlaubten ihm nur den Besuch der Sekundarschule. Dafür hatte Schulthess aber enorme persönliche Vorteile: eine überragende zeichnerische Begabung und eine nicht mindere Begeisterung für die Technik. Schon als ganz junger Mann kratzte er mit seinem Bruder etwas Geld zusammen, um ein gebrauchtes Auto zu kaufen. Die Fahrten damit müssen ziemlich halsbrecherisch gewesen sein.
Das war Ende der 20er Jahre, als er eine Lehre im Atelier Tanner in Zürich als Grafiker absolvierte. Er kam mit der Zürcher Grafikerszene in Kontakt, die sich damals im Aufbruch befand und die Grundlagen für das moderne Schweizer Design schuf. Damals kaufte er auch seine erste Kamera und er sah die wachsende Bedeutung der Fotografie in den Zeitschriften und in der Werbung. Ohne Fotografie, so wurde ihm klar, würde er nicht arbeiten wollen.
1932 eröffnete Hans Finsler in Zürich an der Kunstgewerbeschule seine erste „Fotoklasse“. Obwohl Schulthess nicht über die erforderliche Matura verfügte, durfte er einmal in der Woche hospitieren. Damals begegnete er Werner Bischof, mit dem ihn bis zu dessen Unfalltod 1954 in Peru eine enge Freundschaft verbinden sollte. Von Hans Finsler lernte Schulthess etwas für ihn ganz Entscheidendes: die Akribie im Umgang mit den fotografischen Objekten. Finsler trieb diese Akribie mit Gegenständen wie Eiern, Tellern und anderem auf die Spitze, Schulthess sollte es später mit der Sonne tun. Aber nicht nur mit der Sonne: Alle Länder und Landschaften, die Schulthess bereiste, wurden schon in der Vorbereitung mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aufs Sorgsamste erkundet: Bücher, geografische Fachliteratur, astronomische Daten bezüglich des optimalen Lichts und – natürlich – des besten Standortes zum Fotografieren der Sonne.
Dass wir das Leben von Emil Schulthess so genau nachvollziehen können, verdanken wir wiederum einem Glücksfall. Als die Ausstellung vor zwei Jahren unter der Leitung von Martin Gasser vorbereitet wurde, beauftragte er den Historiker Alexis Schwarzenbach mit der Biographie. Als Schwarzenbach das umfangreiche Archiv sichtete, fielen ihm nicht nur zahllose Briefe und Reisedokumente in die Hände, sondern er stiess am Ende seines ersten Arbeitstages auf einen Koffer mit Tagebüchern – sorgfältig erstellt und chronologisch geordnet. Die Franzosen würden das ein „pain beni“ nennen.
Kongenial hat Alexis Schwarzenbach daraus eine packende Lebensbeschreibung gemacht. Und so ist ein Bildband entstanden, dessen Text ebenso fesselt wie die Bilder: Emil Schulthess - Fotographien 1950 - 1990, Limmat Verlag
Bei Picasso
So beschreibt Schwarzenbach, wie aus dem jungen Grafiker derjenige wurde, der 1941 das Logo für die legendäre Kulturzeitschrift „Du“ entworfen und überhaupt zusammen mit dem ersten Chefredaktor Arnold Kübler wesentlichen Anteil daran hatte, dass diese Zeitschrift unter diesem Namen erscheinen konnte.
Ein Reiz des Buches liegt auch darin, dass Alexis Schwarzenbach mit Anekdoten nicht geizt. So erzählt er davon, wie Emil Schulthess zusammen mit Arnold Kübler für die Zeitschrift „Du“ zu Pablo Picasso gereist ist. Natürlich übernahm Schulthess von Anfang an die Regie bei der Gestaltung der Aufnahmen, aber er durfte nicht den Auslöser bedienen. Denn da eine sehr teure Spezialkamera verwendet wurde, hatte der Verlag verfügt, dass diese nur vom Verlagsfotografen, der zudem Mitglied des Photographen-Verbandes war, bedient werden durfte. Picasso durchschaute das Spiel sofort und sagte zu Schulthess: „C´est vous l´opérateur?“
Aber das Staunen beginnt schon vorher. Schwarzenbach stellt Plakate vor, die Schulthess für St. Moritz, Zermatt, die Bahn am Brienzer Rothorn und Pontresina angefertigt hat. Da treffen sich stupende Kreativität, handwerkliches Können und der Wille zur Perfektion.
1953, inzwischen hatte Schulthess den Platz des grafischen Gestalters geräumt und des Redaktionsfotografen eingenommen, reiste Emil Schulthess für sechs Monate in die USA. Dieses Land hat Schulthess restlos fasziniert und in den Bann geschlagen. Fünf Sondernummern des „Du“ erschienen mit seinen Bildern, und 1955 konnte Schulthess seinen ersten Bildband vorlegen. Kein Geringerer als Edward Steichen, Direktor der Fotoabteilung des New Yorker Museum of Modern Art, war davon sehr angetan.
Ein aufschlussreicher Seitenblick: Nur wenige Jahre später, legte ein anderer Schweizer, Robert Frank, den legendären Band „The Americans“ (franz. 1958, am. 1959) vor. Im Gegensatz zu Schulthess, der schon damals auch farbig fotografierte, zeigte Frank ein düsteres, geradezu pessimistisches Panorama nur in Schwarzweiss.
Es folgten Reisen nach Afrika, in die Antarktis, nach China und in die Sowjetunion. Die Bildbände erreichten jeweils Rekordauflagen und erschienen zumeist in mehreren Sprachen. Für einige Bände hat Schulthess auch den kompletten Text verfasst.Geht man in der Fotostiftung durch die Ausstellung oder blättert man auch nur in dem begleitenden Bildband: Auch heute noch geht von den Fotos eine Magie aus, der man sich ebenso wenig entziehen kann wie die Zeitgenossen von Schulthess. Worin liegt sie begründet?
Was sofort ins Auge sticht, sind die perfekten Kompositionen der Bilder. Dahinter steckt der Einfluss von Hans Finsler und natürlich das Können des gelernten und hochbegabten Grafikers. Aber das allein ist es nicht. Emil Schulthess hat mit Leib und Seele für seine Bilder gelebt. Er hat alles Erdenkliche getan, um sie so vollkommen wie möglich zu machen. Seine Reisevorbereitungen waren an Akribie nicht zu übertreffen. Es gab keine Strapaze, der er sich nicht aussetzte, wenn die Aufnahmebedingungen sie erforderten.
Und ständig war er auf der Suche nach immer besseren Kameras, immer besseren Lösungen. Er konstruierte und baute selbst oder er besuchte ausgewiesene Experten, die ihm das liefern konnte, was er benötigte. Für eine Panoramakamera, die der Industriefotograf und Weltkriegspilot Hermann Schlüter in Harendorf bei Bremerhaven entwickelt hatte, reiste er zwanzig Mal mit dem Auto nach Norddeutschland, bis der Konstrukteur endlich das Modell fehlerfrei liefern konnte, mit dem Schulthess ab 1973 seine Panoramaaufnahmen vom Helikopter aus machen konnte. Diese Aufnahmen erschienen 1982 im Band „Swiss Panorama“ und im Swissair-Kalender, den Schulthess seit 1951 auch grafisch gestaltete. Dank seiner Bilder erreichte dieser Kalender 1990 eine Auflage von 300'000 Exemplaren, wobei Georg Gerster nicht vergessen werden darf, dessen Aufnahmen aus Fluzeugen eine vergleichbare Pionierleistung darstellten und ebenfalls Publikumsrenner waren. Schulthess und Gerster bildeten ein sehr gutes Gespann.
Auf der Dufourspitze
Es hat zahlreiche Versuche erfordert, bis es Schulthess gelang, die um 360 Grad rotierende Panoramakamera so zu perfektionieren und so mit dem Helikopter zu verbinden, dass mit ihr gestochen scharfe Fotos mit genau dem gewünschten Bildausschnitt zustande kamen. Und als wäre das nicht schon schwierig genug, kam es Schulthess auch darauf an, dass der Helikopter genau zum richtigen Zeitpunkt genau in der richtigen Höhe am richtigen Ort war, damit er die optimale Verteilung von Licht und Schatten und damit die beste Ausleuchtung der Bergwelt einfangen konnte. Bei einem dieser Versuche versagte die Panoramakamera. Die Stimmung der Helikopterbesatzung soll danach nicht so besonders gewesen ein.
Wieso musste Schulthess überhaupt Bilder vom Helikopter aus machen? Ganz einfach: Bei seinem ersten Pamoramabild im Herbst 1969 vom höchsten Punkt der Schweiz, der 4634 hohen Dufourspitze, liess sich Schulthess abends zusammen mit seinem Mitarbeiter vom Helikopter auf dem „tischgrossen“ Gipfel absetzen. Sie mussten dort die Nacht verbringen, um den Sonnenaufgang zu erhaschen. Also banden sie sich am Gipfelkreuz fest und harrten im Freien bei Minus 13 Grad aus. Das war selbst Emil Schulthess ein bisschen zuviel.
Begeisterung für die Schönheit
Ein Leben in Leidenschaft für die perfekten Bilder. Diese Bilder waren, wie Martin Gasser in seinem Vorwort zum begleitenden Buch schreibt, in ihrer Objektivität durch eine wissenschaftliche Sichtweise geprägt. Alexis Schwarzenbach wiederum lässt auch Kritiker zu Wort kommen, die Schulthess vorwerfen, zum Beispiel mit seinen Bildern von Afrika einer romantischen Sichtweise zu frönen, die mit der harten sozialen und politischen Realität der Gegenwart nichts zu tun habe. Wer hat nun recht?
Beide. Es ist tatsächlich so, dass Schulthess so objektiv wie möglich Naturphänomene fotografieren wollte. Dazu holte er sich wissenschaftlichen Rat und stellte selbst ständig Berechnungen für die optimalen Orte und Zeiten an. Aber es ist auch richtig, dass er eine Vorliebe für Sichtweisen hatte, die seiner eigenen Begeisterung und Leidenschaft für Schönheit entsprachen. Es liesse sich ergänzen: Auch Wissenschaftler können dazu neigen, in ihrer Begeisterung für die Naturphänomene die soziale Realität auszublenden.
Perfektion
Nach seinem Tod 1996 verschwand Schulthess aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Erklärung dafür könnte darin liegen, dass seine Bilder eben zeitgebunden gewesen seien. Aber das ist absolut nicht der Fall, wie schon der erste Blick in der Ausstellung zeigt. Die Bilder von Emil Schulthess sind heute noch packend, sie rufen auch jetzt Staunen hervor: Wie hat er das bloss gemacht? Warum aber war Schulthess dann in der Versenkung verschwunden? Martin Gasser erklärt dies in seinem Vorwort damit, dass Schulthess „nie zum illustren Kreis der Fotografen“ gehört habe, „die in der ersten Hälfte der 1950er Jahre unter dem Namen „Kollegium Schweizerischer Fotografen“ in Erscheinung trat.“
Wenn man heute seine Bilder auf sich wirken lässt, entsteht eine weitere Vermutung: Die Bilder von Emil Schulthess sind in technischer und formaler Hinsicht derartig perfekt, sein Leben und seine Hingabe an seine Bilder sind so herausragend, dass sie nach seinem Tod zumindest zeitweilig in den Hintergrund treten mussten, um nachfolgenden Fotografen Raum zu geben. Geht das nicht immer so mit Klassikern?
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Emil Schulthess - Retrospektive, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, 8400 Winterthur, bis 23. Februar 2014
Begleitpublikation: Alexis Schwarzenbach: Emil Schulthess - Fotographien 1950 - 1990, mit einem Vorwort von Martin Gasser, hg. von der Fotostiftung Schweiz im Limmat Verlag Zürich, 296 Seiten, ca. 200 Abbildungen