Prostitution ist in arabischen Ländern ein Tabuthema. „Much loved“ – der Film über käuflichen Sex in Marokko von Nabil Ayouch hat versucht, dieses Tabu aufzubrechen. Der Spielfilm über vier Sexarbeiterinnen in Marrakesch wurde am Festival von Cannes im Frühling 2015 ausgezeichnet. In Nabil Ayouchs Heimatland Marokko aber blieb er verboten.
Tunesien zeigt den Film als erstes arabisches Land. Ende November wird „Much loved“ an den „Journées cinématographiques de Carthages“ gezeigt. Das ist kein Zufall.
Tunesien ist zur Zeit das einzige arabische Land, wo Sexarbeiterinnen in „maisons closes“ – in Bordellen – noch geduldet sind und nicht in die Illegalität abgedrängt werden. Sie können eine Lizenz für ihre Arbeit beantragen, werden aber im Gegenzug von der Sittenpolizei strengstens kontrolliert. Am Festival „Dream City“ hat das Künstlerpaar Laila Soliman/Ruud Gielens (Ägypten/Belgien) dazu in Tunis eine Performance gezeigt. Die beiden Künstler arbeiten immer wieder zum Verhältnis Staat-Individuum in den arabischen Ländern. Während einer Residenz in Tunesien haben sie zum Tabuthema Prostitution recherchiert und daraus die Performance „Grande Maison“ entwickelt.
Der Staat reguliert fast alles
Sidi Abdallah Guech: in diesen drei engen Gassen mit mehreren Häusern in der Altstadt von Tunis, nur ein paar hundert Meter von der berühmten Zitouna Moschee entfernt, befindet sich eines dieser berüchtigten „milieus rouges“. Der Eintritt ist nur Männern erlaubt, und natürlich denjenigen Frauen, die hier ihren Beruf ausüben.
Ein Modell davon steht auf einem Tisch im Innern eines Altstadthauses im Quartier Beb Menara. Wir, das Publikum, sind in dieses Haus eingetreten wie die Freier in die Sackgassen von Sidi Abdallah Guech. Fotos sind nicht erlaubt, bedeutet uns der Türsteher. Handys werden bitte ausgeschaltet. Empfangen werden wir von der lächelnden Patronne, der Bordell-Leiterin, die uns ein Zimmer zuweist. Die Tür wird hinter uns zugeschlagen. Hier finden wir keine Sexarbeiterin, sondern eine Historikerin, die uns mit Fakten zum Rotlichtquartier in Tunis versorgt.
Seit 1942 hat die tunesische Regierung den Status der Sexarbeiterinnen als „fonctionnaire“ – als Beamte – in einem Gesetz legalisiert. Der Staat zieht seither Steuern ein und überwacht die Frauen. Und das äusserst strikt, sagt der belgische Künstler Ruud Gielens. Der Alltag dieser Frauen ist so weitgehend reguliert, dass man von einer fast totalen Kontrolle des Staates sprechen könne. „Der Staat ist sozusagen der Zuhälter, der über die Körper der Frauen verfügt.“ Diese sind in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Ohne Bewilligung verlässt keine das kleine Quartier, sonst verliert sie die Lizenz. Einen andern Job darf sie nebenbei nicht ausüben. Freie Tage gibt es nur, wenn der Menstruationszyklus einsetzt.
Ein Leben am Rand der Gesellschaft
Die Frauen müssen zweimal wöchentlich zum Gesundheitscheck um die Verbreitung von Geschlechtkrankheiten zu verhindern. Einmal monatlich gehen sie zum Aids-Test. Für die Künstlerin Laila Soliman ist das bei aller Kritik an den rigiden Arbeitverhältnissen, wo es sehr viele Pflichten aber nur wenige Rechten gibt, ein Vorteil gegenüber dem illegalen Zustand. „Die Männer müssen Kondome benutzen, die Polizei ist dauernd präsent und schützt die Frauen auch vor gewalttätigen Übergriffen. Die gesundheitliche Versorgung ist gut.“
Doch rosig ist das Leben in den Bordellen nicht. Die Sexarbeiterinnen haben zwar ein eigenes Einkommen, aber sie sind gesellschaftlich isoliert. Einige werden zwar von ihren Familien akzeptiert, aber der Grossteil der Gesellschaft blickt auf sie herab. Im mehrheitlich muslimischen Tunesien ist der Geschlechtsakt offiziell nur für verheiratete Paare vorgesehen.
Weniger Bordelle nach der Revolution
Was nicht sein darf in anderen muslimischen Ländern, wird in Tunesien also strikt staatlich geregelt. Allerdings hat die Zahl der Bordelle nach der Revolution 2011 rasant abgenommen. Die für zwei Jahre installierte islamistische Regierung hat geduldet, dass Fundamentalisten gegen diese Häuser vorgegangen sind. Vor allem in den südlichen Teilen des Landes wurden Sexarbeiterinnen vertrieben, ihre Häuser teilweise zerstört oder geschlossen. „Neue Lizenzen werden von der Polizei nicht mehr vergeben“, sagt Laila Soliman.
Auch gegen das Bordell in der Altstadt von Tunis ist eine aufgebrachte Menge im Februar 2011 vorgegangen. Die Sexarbeiterinnen wurden aber von den Anwohnern und schliesslich auch von der Polizei geschützt. Ein Eisentor schirmt das Quartier seither ab, das Namensschild der Gasse wurde entfernt. Das Bordell bleibt während des Ramadans und während der Freitagsgebete geschlossen, ein Zugeständnis an die strenggläubigen Muslime.
Spartanische Verhältnisse
In einem weiteren Raum der Performance von Soliman/Gielens ist das Zimmer einer Sexarbeiterin eingerichtet. Es sieht spartanisch aus: ein Bett, ein Lavabo, ein Ventilator, ein Spiegel. Auf dem Nachttisch steht eine riesige Papierrolle bereit. Eine Putzfrau sitzt auf einem Stuhl und raucht. In einem Video erzählt eine ehemalige Sexarbeiterin von ihrem Alltag. Ruud Gielens und Laila Soliman haben mit mehreren von ihnen sprechen können. „Sie reden von 20 bis 30 Kunden pro Tag. Diese bezahlen 10 Dinar, das sind 5 Euro für einen Eintritt. Die Hälfte davon geht an die „Patronne“ und als Steuer an den Staat. Es bleiben also 2 Euro 50 für einmal Sex.“
Ruud Gielens ist als Mann in das Quartier hinein gegangen, weil auch Ausländer dazu Zugang haben. Laila Soliman konnte mit einer Ausnahmebewilligung ebenfalls ein einziges Mal eintreten. Was Ruud Gielens nicht erwartet hat: die Solidarität in dieser kleinen Gemeinschaft, trotz repressiven Verhältnissen. „In diesem geschlossenen System, wo sich die Outcasts der Gesellschaft treffen, kann man viel Menschlichkeit sehen. Sie sind füreinander da.“
Wieviele Sexarbeiterinnen es in Sidi Abdallah Guech gibt, ist unklar. Es gibt keine aktuellen öffentlichen Statistiken. Die Sittenpolizei hält sich bedeckt und will darüber nicht Auskunft geben. Trotz schwierigen Bedingungen sieht Laila Soliman unter den Frauen ein neues Selbstverständnis wachsen. „Wer seine Lizenz verliert, schluckt das nicht mehr einfach so, sondern macht eine Beschwerde beim Innenministerium. Oder wenn sich eine Frau von der Polizei ungerecht behandelt fühlt, geht sie auch mal vor Gericht.“
Das Verdeckte offenlegen
Das Künstlerpaar Soliman/Gielens ist an der Frage der Rechte von Sexarbeiterinnen interessiert, weil sie den marginalisierten Frauen eine Stimme geben wollen. Diese Performance in Tunis hätten sie ganz klar für das dortige Publikum gemacht, sagt Ruud Gielens. „Viele sehen hier zum ersten Mal, unter welch harten Bedingungen diese Frauen leben. Es geht darum, etwas sichtbar zu machen, das der Staat lieber im Verborgenen hält.“ Wichtig war dem Künstlerpaar auch, im arabischen Raum nicht mit schmierigen Bildern an die Öffentlichkeit zu gehen. „Wir lassen den Frauen ihre Anonymität, zeigen keine juicy details. Es soll auch für konservativere Kreise möglich sein, sich diese Performance anzusehen.“
Die Reaktionen des Publikums geben ihnen Recht. Viele Tunesier waren interessiert zu erfahren, was sich in den Bordellen wirklich abspielt und welche Rolle der Staat dabei einnimmt. Es kursieren zwar etliche Gerüchte, aber Genaueres dazu weiss niemand. Mit dieser subtilen Performance haben mehrere hundert Tunesier Zugang zu verlässlicheren Informationen über die Sexarbeiterinnen in ihrem Land erhalten.