Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Europapolitik der Schweiz weisen zurzeit ein unterschiedliches Tempo auf. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt in diesen beiden Bereichen offensichtlich nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen.
Kommt die europäische Integration der Schweiz auf dem sicherheits- und verteidigungspolitischen Weg schneller voran als auf dem politischen und wirtschaftlichen? Ja, meinen aufmerksame Beobachter der schweizerischen Europa-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Indizien zeigen, dass sie möglicherweise recht haben. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen völkerrechtswidrigen Überfall auf das Nachbarland Ukraine startete, wurden in der schweizerischen Politik rasch Stimmen laut, die eine weitere Annäherung an das nordatlantische Militärbündnis Nato forderten.
Keine Fortschritte
Die Nato ist die wichtigste Organisation für Sicherheit und Verteidigung in Europa. Und Anfang Juli unterzeichnete Verteidigungsministerin Viola Amherd eine Absichtserklärung, mit der die Schweiz Teil der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield werden soll. Die von der Nato unabhängige Initiative geht auf Deutschland zurück. Bisher sind ihr 17 europäische Nato-Länder beigetreten. Mit Österreich und der Schweiz wollen jetzt erstmals auch zwei neutrale Nato-Nichtmitglieder mitmachen.
Derweil wurden nach dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine keine Forderungen gestellt, die Schweiz solle sich der Europäischen Union (EU), der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation in Europa, über den bisher begangenen bilateralen Weg hinaus weiter annähern. Mehr noch: Die Beziehungen Schweiz–EU dümpeln seit dem ergebnislosen Abbruch der mehrjährigen Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 vor sich hin. Aussenminister Ignazio Cassis’ Diplomaten sondieren zwar seit über einem Jahr fleissig mit der EU, wie der bilaterale Weg gesichert und fortgesetzt werden könnte. Die Aufnahme von neuen Verhandlungen über ein Bilaterale III genanntes Vertragspaket ist aber auch nach zehn Sondierungsrunden noch nicht in Sicht. Das, obwohl die Schweiz seit 15 Jahren kein Abkommen mehr mit der EU geschlossen hat. Mit der EU ist die Schweiz notabene geografisch, kulturell, personell und wirtschaftlich aufs Engste verflochten.
Zerstörte Gewissheiten
Dieser Unterschied zwischen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Europapolitik der Schweiz hängt, wie eingangs betont, eng mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Dieser hat eine jahrzehntealte Gewissheit auf einen Schlag zerstört, nämlich, dass Europa nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu einem Kontinent des Friedens geworden ist, in dem die seither geltenden Grenzen der europäischen Nationalstaaten gegenseitig respektiert werden (was 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestätigt wurde) und zwischenstaatliche Kriege der Vergangenheit angehören. Der plötzliche Verlust dieser Gewissheit hat die europäischen Staaten zum Handeln in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik veranlasst. Zahlreiche von ihnen beschlossen, das Verteidigungsbudget endlich auf die von der Nato geforderten zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die bisher neutralen Länder Finnland und Schweden beantragten den Beitritt zur Nato; Finnland ist inzwischen dem Militärbündnis beigetreten. Und Dänemark gab seinen langjährigen Vorbehalt gegen die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf.
Auch die Schweiz hat im Nachgang des Ausbruchs des Kriegs in der Ukraine ihr Verteidigungsbudget erhöht. Zudem forderten namhafte Politiker, die Schweiz solle ihre bisherige Zusammenarbeit mit der Nato ausbauen. Es werde immer deutlicher, dass die Schweiz ihre Sicherheit und Unabhängigkeit im Kriegsfall nicht mehr allein gewährleisten könne. Seit 1996 ist die Schweiz mit der Nato über das Kooperationsprogramm «Partnerschaft für den Frieden» verbunden. Seit 1999 nimmt sie auch an der Nato-Friedensmission für den Kosovo (KFOR) teil. Die Schweizer Luftwaffe trainiert seit Jahren im europäischen Ausland Ernstfalleinsätze. Angedacht ist eine gemeinsame Abwehr von Cyberattacken. Nun ist sogar auch eine Teilnahme an Verteidigungsübungen der Nato im Gespräch. Und mit dem Kampfjet F-35 und dem Luftabwehrsystem Patriot sind Nato-kompatible Rüstungsgüter in Beschaffung.
Als vorläufig letzter Schritt kommt jetzt die beabsichtigte Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI). Zunächst soll es um die gemeinsame Beschaffung von Luftabwehrsystemen und die Kooperation bei der Ausbildung gehen.
Neutralität gewährleistet
Auch die ESSI-Teilnahme soll mit der Neutralität der Schweiz vereinbar sein, versicherte Verteidigungsministerin Amherd anlässlich der Unterzeichnung der Absichtsverklärung. Dieser hat die Schweiz aber sicherheitshalber noch einen Neutralitätsvorbehalt angehängt. Das macht deutlich: Es wird immer schwieriger, die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz in Europa zu schützen und gleichzeitig den Status eines neutralen Landes aufrechtzuerhalten. Ja, die Neutralität nützt der Schweiz im unsicherer gewordenen Europa immer weniger und wird immer mehr zu einem Hindernis für einen wirkungsvollen Schutz vor einem allfälligen Angriff auf das Land. Trotzdem wagen es bisher nur wenige, die schweizerische Neutralität in Frage zu stellen.
Natürlich hat der Krieg in der Ukraine auch wirtschaftliche Folgen für Europa. Er hat beispielsweise aufgezeigt, wie abhängig wir geworden sind von Staaten, die in einem Systemwettbewerb mit uns stehen. Im Fall von Russland geht es vor allem um Energie und Rohstoffe. Trotzdem hat die EU harte Sanktionen gegen Russland erlassen, die auch einen Boykott von russischem Gas und Öl umfassen. (Die Schweiz hat diese Sanktionen nach anfänglichem Zögern übernommen.) Gleichzeitig hat die EU schleunigst begonnen, ihre Quellen für Gas- und Öllieferungen zu diversifizieren. Die Schweiz ist in diesem Prozess als Nicht-EU-Mitglied auf sich allein gestellt. Sie versucht, allfälligen Engpässen fast schon verzweifelt in Kooperationsabkommen mit den Nachbarstaaten Deutschland und Italien zuvorzukommen. Mit Italien ist ein solches Abkommen eben abgeschlossen worden.
Trotzdem will die Schweiz auch in Zukunft am bilateralen Weg mit der EU festhalten, obwohl dieser für solche Herausforderungen nur beschränkt Lösungen bereithält. Der Bundesrat hat diesen Weg in seiner jüngsten Lagebeurteilung der Beziehungen Schweiz–EU als den für unser Land vorteilhaftesten bezeichnet. Einem neuen Anlauf zur Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar einem Beitritt zur EU erteilt er dagegen gleichenorts eine Absage. Diese Lagebeurteilung hat in der schweizerischen Politik und Wirtschaft erstaunlicherweise fast niemand in Frage gestellt. Der Schweiz genügt offenbar die bisherige beschränkte wirtschaftliche Beziehung zur EU. Verkannt wird dabei, dass die EU in Europa nicht nur grosses wirtschaftliches Gewicht hat, sondern – nicht zuletzt aufgrund des Kriegs in der Ukraine – auch zu einem ernstzunehmenden politischen Akteur geworden ist.