Wie hier schon früher dargelegt, wusste die bundesrätliche Berechtigung zur Beschaffung von neuen Kampflugzeugen im Rahmen der Abstimmung vom 27. September nicht zu überzeugen. Weder von der Theorie (Neutralität) noch von der Realität (friedliches Europa) her. Neutralität im völkerrechtlichen Sinne ist ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts, wurde noch angewandt während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und behielt eine kleine Restbedeutung bis zum Ende des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre. Heute ist die schweizerische Neutralität primär innenpolitischer, oft strapazierter und mitunter missbrauchter nationaler Mythos.
Neutralität
Speziell eindrücklich, wie Fridez belegt, dass die Schweiz bereits seit dem Ende des zweiten Weltkrieges unter dem NATO-Schirm Schutz fand – und bis heute findet – vor einem konventionellen militärischen Angriff auf unser Land. Der Preis, den die Schweiz dafür bezahlt hat, ist relativ bescheiden ausgefallen. Er wurde aus aussenwirtschaftspolitischen Gründen – sog. COCOM-Regeln zur Beschränkung westlicher Lieferung von Technologie an den Osten – und vor einem undurchsichtigeren Hintergrund – Crypto AG – offensichtlich bereitwillig entrichtet.
Nicht dazu gehört die Aufrechterhaltung einer eigenständigen Verteidigung an den Landesgrenzen allein durch eine in allen Belangen hochgerüstete Armee. Bereits während des Kalten Krieges, und ganz speziell seither in einem friedlichen europäischen Umfeld, war und ist dies eine Illusion. Fridez stellt unmissverständlich fest, dass ein, momentan unwahrscheinlicher, konventioneller Angriff in Westeuropa erstens durch NATO-Gebiet erfolgen würde und zweitens die Neutralität dabei ohnehin wegfallen würde.
Keine „Rundum-Armee“
Auf dies stützt sich der Autor in seiner Kritik, was die umfassende Erneuerung aller Kriegsmittel der schweizerischen Armee auf den neusten Stand der Militärtechnologie anbelangt. Ein solcher Ersatz ist tatsächlich, wie Fridez unterstreicht, für die Schweiz weder finanziell möglich noch wirklich nötig, da die EU Europa politisch und wirtschaftlich zusammen- und damit friedlich hält, bei sicherheitspolitisch nach wie vor effektiv aufgespanntem NATO-Schirm.
Als Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates weiss Fridez wohl, wovon er spricht, wenn er bürgerliche Weichenstellungen in Richtung zukünftig steigender Budgetmittel für das VBS in Frage stellt. Entsprechend seiner Analyse über die wirkliche Bedrohung plädiert er dafür, künftige militärische Beschaffungen nicht auf Panzer und andere Waffen von gestern zu konzentrieren, sondern weniger Mittel, diese aber gezielter einzusetzen.
Die Art der Bedrohung
Hier holt Fridez recht weit aus in der Darstellung zunächst der internationalen Institutionen, welche in der Folge des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurden. Man mag sich fragen, ob beispielsweise die Erwähnung des Europarates hierhin gehört. Allerdings stellen natürlich auch Menschenrechtsverletzungen eine Bedrohung der Sicherheit einzelner Bürger dar; ein Beispiel dafür, wie fliessend sich der Übergang darstellt von harter Sicherheit, dem zentralen Thema des Buches von Fridez, zu weicher, menschlicher Sicherheit.
In seiner Auflistung von Bedrohungen der Schweiz und ihrer Einwohner ist Fridez zuzustimmen. Dazu gehören der Terrorismus, Cyberrisiken, die Gefährdung kritischer Infrastruktur, Klimawandel und gesundheitliche Herausforderungen, wie etwa eine Pandemie. Ein Element fehlt aber: Bedrohungen von Europa als Ganzem und damit auch der Schweiz. Ihnen ist in Zukunft vermehrt ausserhalb unseres Kontinentes entgegenzutreten und dies auch mit konventioneller Kriegsführung und den entsprechenden Mitteln. Dies trifft zu für die Herkunft von terroristischen Gefahren und vor allem für Konflikte im „near abroad“ von Europa, also im Osten und Süden unseres Kontinentes, welche kaum zu bewältigende Flüchtlingsströme Richtung Europa auslösen können.
Sicherheitspolitische Mittel
Hier gibt Fridez einen umfassenden Überblick von Mitteln, welche der Schweiz zur Verfügung stehen, von harter zu weicher Sicherheitspolitik. Aufgezählt werden Polizei und Grenzwachtkorps, wo der Autor eine beträchtliche Erhöhung der Bestände für angezeigt hält sowie Zivilschutz und Zivildienst. Friedensförderung, Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe und spezifische sicherheitspolitische Strukturen, welche primär von der Schweiz finanziert werden wie die drei Genfer Zentren für Frieden und Sicherheit.
Was hier folgerichtig wiederum fehlt, ist die spezifische Benennung, wo die Schweiz harte Sicherheit im Eigeninteresse auch im Ausland einsetzen sollte, so etwa bei der europäischen Grenzpolizei Frontex. Der Autor hat sein Buch vor der Kampfflugzeugabstimmung Ende September abgeschlossen. Wenn nun, wenn auch mit knapper Mehrheit, die Schweiz wirklich moderne, unter allen Umständen kampfkräftige Maschienen einkauft, so ist das nur sinnvoll, wenn sie sich in einen europäischen Verbund einfügen lassen. Weil eben eine rein autonome Luftverteidigung an den Landesgrenzen, wie generell eine solche Abwehr der Schweiz, wie Fridez zu Recht festhält, weder möglich noch nötig ist.
Notwendiger Tabubruch
Das grosse Verdienst dieser Schrift ist seine tabufreie Behandlung schweizerischer Sicherheitspolitik. Wie er zu Recht festhält, ist eine solche, auch und gerade im parlamentarischen Entscheidungsprozess, dringend nötig. Zu oft wird in den schweizerischen Räten über sicherheitpolitische Vergangenheit, aufgehängt an nicht mehr zeitgemässen Mythen und Prinzipien, diskutiert. Der ausgewiesene Sicherheitspolitker Fridez, der unter anderem auch der schweizerischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der NATO angehört, leistet der Sache hier einen grossen Dienst.
Über Gewichtung und geographischen Einsatz sicherheitspolitischer Mittel mag man diskutieren. Nicht aber über die Berechtigung, schweizerische Sicherheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu denken. Da hat der Autor voll ins Schwarze getroffen; sein leicht lesbares und handliches Werk ist Pflichtlektüre für alle Interessierten.
Pierre-Alain Fridez: Sicherheit und Verteidigung der Schweiz, Tabus brechen, Lösungen wagen. 192 Seiten, Deutsch von Peter Hug, BoD Books on Demand, Norderstedt, 2020. Titel der Originalausgabe: Sécurité et défense de la Suisse, Casser des tabous, oser les solutions, Edition Favre SA, Lausanne, 2020.