Die schiitischen Seminare im Iran sind mit modernen Unterrichtsmitteln ausgestattet, doch Lehrinhalte und Methoden bleiben mittelalterlich. Ein dreifaches Feuer von Modernität, Globalisierung und Geisteswissenschaft fresse sich durch die Köpfe der Seminaristen, schrieb ein bekannter Mullah aus der heiligen Stadt Maschhad. Beobachter diagnostizieren unter den jungen Mullahs Schizophrenie – sie gerieten in eine geistige Sackgasse.
Zerfall
„Gesellschaftlicher Zerfall“ – dieser Terminus macht seit etwa sechs Wochen im Iran eine erstaunliche Karriere. Er ist zum Begriff des Zeitgeistes geworden, Beschreibung und Befund zugleich. Googelt man die Worte زوال اجتماعی , findet man Hunderte Artikel und Essays verschiedener Autoren, die unter diesem Stichwort unterschiedliche Themen behandeln – und alle sind neueren Datums, der Strom will nicht abreissen. Man hantiert mit dieser Bezeichnung so, als sei sie eine unbezweifelbare Tatsachenbeschreibung, die auf eine autorisierte Quelle oder eine offizielle Stelle zurückgeht. Und in der Tat stammen diese beiden Wörter aus berufenem Mund.
Der mächtige Minister
Es ist Samstag, der 17. Februar 2018. Abbas Akhundi, Irans Verkehrsminister, tritt in der Universität Teheran auf. Dort soll der 60-Jährige als Hauptredner auf einer Tagung des Ingenieurverbandes über den Stellenwert der Ingenieure in der Gesellschaft sprechen. Doch seine Rede wird zu einer Sensation, zu einer verbalen Bombe. Akhundi ist selbst Ingenieur und gehört seit Bestehen der Islamischen Republik zu ihrem innersten Machtkern. Mit dem Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini machte er schon als Knabe im irakischen Exil Bekanntschaft.
Fast vierzig Jahren sind seit der Gründung der Islamischen Republik vergangen, und in all diesen Jahren diente Abbas Akhundi ihr in unterschiedlichen, aber immer wichtigen Posten und Positionen. Wenn nun jemand wie er vom gesellschaftlichen Zerfall der Republik redet, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass diese Worte wie ein offizielles Zeugnis, ein Beweis aufgefasst werden – vom Freund wie vom Feind.
Symptome des Zerfalls
Der „gesellschaftliche Zerfall“ tauchte in des Ministers Rede keineswegs versehentlich oder beiläufig auf. Im Gegenteil. Seine These wählte der mächtige Mann bedacht und begründete sie sehr systematisch. Wie unter den Funktionären und Predigern des Gottesstaates üblich, leitete Akhundi seine Ansprache zunächst mit einem philosophischen Grundsatz ein. Die Aufgabe eines jeden Ingenieurs sei die Herstellung der Ordnung, begann er. Es seien die Ingenieure, die uns den Weg aus dem Chaos zeigten. Nicht nur in einer Fabrik oder einer Werkstatt, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. Überall bräuchte man die ordnende Hand und das wegweisende Wissen eines Ingenieurs. Heute brauche die Islamische Republik mehr denn je die regulierende Kreativität der Ingenieure, denn die Wahrheit sei, dass sich ihre Gesellschaft in einem gesellschaftlichen Zerfall befinde.
„Wir sind nicht in der Lage, unsere grundsätzlichen Probleme zu lösen. Wir produzieren keinen Mehrwert mehr und können daher der Gesellschaft keine Hoffnung vermitteln. Diese Wahrheit müssen wir offen aussprechen. Je länger wir darüber schweigen, umso komplizierter machen wir unsere Situation“, sagte der Minister, um dann ausführlich die Symptome dieses Zerfalls aufzuzählen: „Wir können keine gemeinschaftliche Aufgabe gemeinsam lösen, ob es sich um Sandstürme oder um andere Umwelt- oder Wirtschaftsprobleme handelt. Die Schwelle unserer Geduld sinkt kontinuierlich. Jede kleine Protestversammlung entwickelt sich schnell zu einem unkontrollierbaren Chaos. Früher sagten wir, es wäre sehr gut, wenn bei unserem Haushalt 30 Prozent für tägliche Ausgaben und 70 Prozent für Investition verwendet würden. Heute geben wir 100 Prozent unseres Haushalts für unseren Tagesbedarf aus. Wir haben null Investitionen, das bedeutet, wir produzieren Null Mehrwert.“ So sprach der Minister fast eine Stunde.
Zerfall, wohin man schaut
Kaum hatte die Nachrichtenagentur ISNA über diese Rede berichtet, da brach ein Sturm in den sozialen Medien aus. Über den Messengerdienst Telegram, den etwa vierzig Millionen Iraner nutzen, erfuhr fast jeder sofort, wie der Minister über die islamische Republik denkt und wie offen er darüber spricht. Es war eine Sensation, ein Geständnis aus dem Zentrum der Macht, die nun öffentlich ihre Niederlage gestand. Die Kommentare und weitere Beispiele für den Zerfall folgten. Plötzlich hatte jeder etwas zu dem Thema beizusteuern. Selbst die altehrwürdige BBC machte aus dem „Zerfall“ in ihrem persischsprachigen Programm eine einstündige Talkshow.
Jeder will plötzlich diesen Zerfall überall sehen, wo er hinschaut, sogar die Geistlichkeit. Eine Woche nach der Ministerrede meldete sich ein Geistlicher aus der heiligen Stadt Maschhad und beschrieb, wie sich der „Zerfall“ selbst im schiitischen Lehrbetrieb ausgebreitet habe.
Dreifaches Feuer frisst sich durch die Köpfe
„Ich bin ein Geistlicher, der seit zehn Jahren im schiitischen Lehrseminar in Maschhad studiert. Und ich darf von mir behaupten, dass ich das Seminar und die Seminaristen sehr gut kenne. Mein Fazit: Die Apostasie breitet sich unter den Geistlichen rasant aus. Ein dreifaches Feuer frisst sich durch unsere Köpfe hindurch: Modernität, Globalisierung und Geisteswissenschaft. Und niemand vermag dieses Feuer zu löschen. Viele meiner Kommilitonen bekennen sich in Zwiegesprächen zum Atheismus oder bezeichnen sich als Agnostiker. Die herrschenden Normen in unseren Seminaren sind zu alt und daher unbrauchbar, um dem Prozess des geistigen Zerfalls Einhalt zu gebieten.“
Der junge Geistliche, der mit diesen Zeilen offen Alarm schlägt, heisst Javad Sharifi und ist unter den Seminaristen als engagierter Aktivst und als regimetreu bekannt – sogar über Maschhad hinaus. Alles, was er schreibe, gehöre zwar zu verbotenen Geheimnissen der schiitischen Seminare, fügt Sharifi hinzu. Doch die Zeit sei reif, offen darüber zu sprechen, woher dieser Zerfall komme und warum die Geistlichkeit hier angelangt sei.
Ein Staat nicht im, sondern über dem Staat
Ungefähr 400’000 Mullahs studieren in etwa 400 Seminaren, Akademien und anderen Ausbildungszentren, über die Staatspräsident Hassan Rouhani keine Kontrolle hat. Obwohl seine Regierung alljährlich für ihre Budgets sorgen muss, darf sie weder bei der Organisation oder Verwaltung noch bei den Lehrinhalten mitreden. Die Geistlichkeit ist ein völlig autarker Organismus. Sie ist nicht ein Staat im, sondern über dem Staat. Die schiitischen Lehrstätten werden von Revolutionsführer Ali Khamenei persönlich kontrolliert und gelten als Kaderschmiede des gesamten Staatsapparats. Sie bilden Richter, Lehrer, Professoren und sogar Diplomaten aus.
Viele Mullahs tragen die Titel Doktor und Professor und als solche sitzen sie auch in verschiedenen Ministerien und Universitäten. Gemäss Verfassung sind bestimmte Posten und Positionen des Staates nur den Geistlichen vorbehalten. Der Chef der Justizbehörde muss ebenso ein Ayatollah sein wie der Geheimdienstminister. Die überwiegende Mehrheit der Richter sind Mullahs und auch die „Zivilisten“ des Justizapparates müssen eine religiöse Ausbildung durchlaufen haben.
Die schiitischen Lehrstätten sind mit modernsten Lehrmitteln ausgestattet, sie bekamen früher und schneller Internetzugang als normale Universitäten des Landes.
Geistige Schizophrenie der Ayatollahs
Der Inhalt der Seminare mag mittelalterlich sein, ihre Hülle jedoch ist modern, sogar viel moderner als die der weltlichen Lehrbetriebe.
Für diese Diskrepanz hat Mehdi Khaladji mehrere Beispiele parat. Der 44-Jährige studierte selbst zehn Jahre im Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit in der heiligen Stadt Qom. Er kennt sich mit den schiitischen Lehrbetrieben bestens aus und hat mehrere Bücher über die Wandlung der schiitischen Geistlichkeit nach der Revolution geschrieben. „Sehen Sie sich Ayatollah Makarem Shirazi an. Er ist das Sinnbild der Widersprüchlichkeit“, sagt Khaladji und beschreibt, wie dieser mächtige Ayatollah in seinem Seminar agiert. „Ayatollah Makarem ist der einflussreichste schiitische Gelehrte in der Islamischen Republik. Er hat Tausende Studenten, die er nicht nur alimentiert, sondern deren künftigen Werdegang er genau verfolgt. Ayatollah Makarem sitzt einem riesigen Wirtschaftsimperium vor. Er besitzt und kontrolliert mehrere Fernsehsender, die weltweit für ihn und seine Ansichten werben. Seine Webseite ist professionell gestaltet und bedient die Besucher in sieben Sprachen, Spanisch und Russisch inklusive. Auf Makarems Webseite kann man mit Kreditkarten seinen religiösen Obolus entrichten. Doch genau dieser Ayatollah ist ein ausgesprochener Gegner des Internets und tritt für möglichst strenge Zensur ein.“
Ayatollah Makarem personifiziere jene Widersprüche, in der die schiitische Geistlichkeit lebe oder leben müsse, sagt Khaladji. Globalisierung und Moderne vereinigten sich in seiner Person mit Mittelalter und Engstirnigkeit. Warum und wie ein Grossayatollah mit dieser kulturellen Schizophrenie zurechtkommen kann, ist ein Thema für sich. Vielleicht kompensiere die enorme Macht, die er ausübt, das alles und schaffe die notwendige Verdrängung. Doch die Mullahs in den niedrigeren Rängen gerieten wegen dieser Diskrepanz zunehmend in eine geistige Sackgasse. Das sei aber „eine ganz herrliche Sackgasse“, sagt Khaladji, denn gerade und nur aus dieser Ausweglosigkeit könne sich irgendwann ein rettender Weg bahnen.
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal